: Unter Häuptlinginnen
■ Die „Silberlocken“, Altentheater, mit neuer Revue „Frauenschicksale und schicke Frauen“ auf Tournee in Tenever
Hinter Mercedes, Atlas Electronic, tausend Ampeln und sieben Videopalästen liegt wie hinter sieben Bergen Tenever. Sich in diese Gegend zu begeben muß Gründe haben. Zwar kann man auch in Elendsromantik schwelgen und hinter jedem Betonpfeiler Übeltäter vermuten; man kann aber auch ins Theater gehen. Doch!
Es ist ein bißchen mit Glück verbunden, zwischen zig Hochhausschluchten grade das Räumchen zu finden, wo Arbeitslosenzentrum draufsteht und heute abend die Altentheatergruppe der VHS auftritt. Zentrum ist gut: eine etwas größere Raumschachtel mit freundlicher Küchentheke für Getränke und tapferen Topfblumen, die zur Decke streben, die ist nicht weit.
Die ersten Menschen tröpfeln; in wohnlichen Plastikpantoletten, also Bewohnerinnen vom Komplex Wormserstraße. Es sind wenige, aber dem Raum schon fast zuviel.
Diese Frauen kann man schwer vergessen: unglaublich dicke Frauen, voll behängt und also geschmückt; enorm blasse Frauen mit lieben leeren Augen und weißen Faltenröcken; laute Frauen mit so rigorosem Optimismus, daß man sofort mit muß. Und vollkommen stillsitzende Frauen, die nur zum Sehen gekommen sind. Ein Wunder eigentlich, hier noch sehen zu wollen oder Dinge zu unternehmen.
Aber heute gastieren „Die Silberlocken“ aus Walle und versprechen eine Revue über Frauenschicksale. Aus der Nachkriegszeit. Alles selbsterlebt und selbsterdacht zum Vorspielen. Die „Silberlocken“ sind quasi alte Theaterhasen: zwölf ältere Damen, die soweit gekommen sind, daß sie jetzt schon sketchweise im Unterrock auftreten.
Das hätten sie sich zu Anfang im Volkshochschul-Theaterkurs nicht träumen lassen. Bei Corny Littmanns „Schmidts Mitternachtsshow“ waren sie auch schon. „Frauenschicksale“ ist ihr zweites Stück.
Wild verwickelt in Flüchtlingsjoppen und in standhaft ausgetretenen Schuhen ruckelt die Revue auf ihre Reise in die Vergangenheit, stoppt und wackelt, läßt Dampf ab und hat Luft zum Lachen. Da wird, manchmal in klitzekleinen Szenchen, ein liebevoller, aber durchaus heller Scheinwerfer auf dunkle Flecken gerichtet: die Nachbarin, Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen, wird ganz einvernehmlich zwischen Dauerwellenlegen und Lebensmittelschacher aus dem Laden bugsiert. Bei der Entnazifizierung müssen sich die Nazissen ausmustern lassen und reißen versehentlich die Arme hoch.
Und etwas Merkwürdiges geschieht: eine Art Beklemmung findet statt. Vielleicht, weil sich alles so direkt uns gegenüber abspielt. Vielleicht auch deswegen, weil das Spiel ziemlich nach Ernst aussieht. Aber es gibt genauso rasend rührende Komik: die erste Modenschau nach dem Krieg mit diesem Rock aus dem Topfschrankvorhang und dieser Bluse aus Zuckersack. Im Zarah-Leander-Rhythmus klopfen Trümmerfrauen Steine, über rostigen Waschschüsseln verlieren sie sich in Träumen von Tango und Speck und Raffgardinen und Nahtstrümpfen; und wir müssen lachen und sind ein bißchen eingeschüchtert von den echten Stützstrümpfen, die unter dem Kittelschürzenkostüm herausschauen.
In der Pause finden die meisten: so war's. Genau so! Trotz Laientheater haben sie's wiedererkannt. Viele haben die Nachkriegsjahre bewußt erlebt. Mein Gott, stundenlang hat Helma Groth, 62, sich zu Führers Geburtstag die Beine im Oslebshauser Park in den Bauch gestanden. Und wollte sich doch von SS-Männern nicht einfach zu zwei Zentner Kartoffelschälen abkommandieren lassen! Die meisten Frauen stehen zusammen und rauchen, man kennt sich und ist wenigstens gemeinsam arbeitslos.
Tenever ist gar nicht so schlecht, sagt der kleine Lebensgefährte von der lebenslustigen Frau Groth, einziger Mann hier. Schlechte Menschen gibt's auch in Blumenthal! Und hier trinkt man mit den Nachbarn, heutzutage Russen, schonmal Wodka, leider 75prozentigen, also ein bißchen stark. Und kann eben auch ins Theater, wie jetzt. Die Tür zu den Menschen führt nach außen, hat der verstorbene Mann von Frau Groth noch gesagt, bevor er starb. Das hat sie sich für's Leben gemerkt und auch für Tenever. Claudia Kohlhase
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