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Politisch Verfolgte genossen Asyl

■ Im von 10.000 DemonstrantInnen belagerten Bundestag zeichnete sich Zweidrittelmehrheit für Änderung des Artikels 16 ab / Behinderungen, vereinzelt auch Tätlichkeiten gegen Abgeordnete

Bonn (AFP/AP/epd) – Bevor Europa endgültig zur Festung wird, machten mehr als 10.000 DemonstrantInnen gestern den Bundestag am Tag der De-facto-Abschaffung des Asylrechts zu einer solchen. Auf der einen Seite Absperrgitter, Stacheldraht und 4.500 Polizisten – auf der anderen die Protestierer, die mit einer Blockade um die Bannmeile die halbe Stadt lahmlegten. Nur diejenigen Abgeordneten, die die Boote der Wasserschutzpolizei oder Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes benutzten, erreichten pünktlich ihren Platz im Wasserwerk. In einigen Fällen kam es zu Rangeleien und Schlägereien mit den DemonstrantInnen. Bei dem Versuch des Abgeordneten Wolfgang Ullmann (Bündnis 90), die Sperren zu durchbrechen, zerfetzten ihm junge Leute sein Redemanuskript, obwohl er sich als Gegner der Asylgesetzänderung zu erkennen gegeben hatte.

Der im vorhinein von Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble als „Gotteslästerung“ bezeichnete Mahngottesdienst ging mit mehr als 500 Menschen friedlich vor sich. Die Behörden hatten versucht, die Veranstaltung in der Bannmeile, nur 200 Meter vom Bundestag entfernt, zu untersagen. Doch hob das Oberverwaltungsgericht Münster im letzten Augenblick eine Verbotsentscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts wieder auf.

Drinnen im Wasserwerk sagte Innenminister Rudolf Seiters (CDU), die Änderung des Asylrechts werde seit langem von Kommunen und Bürgern „dringend“ erwartet. Der Vorwurf, in Deutschland werde es künftig keine fairen Asylverfahren mehr geben, sei „abwegig“. CDU/ CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble betonte, zwei Drittel aller Asylbewerber in Europa kämen nach Deutschland. Daher müsse das Niveau des deutschen Asylrechts an das in „anderen zivilisierten Staaten“ angepaßt werden.

SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose mahnte, in der Bevölkerung wachse angesichts von 450.000 Flüchtlingen im Jahr die Angst vor sozialer Überforderung. Dies gefährde die Stabilität der Demokratie. Das Problem der Zuwanderung könne angesichts des Wohlstandsgefälles in Europa zwar nicht gelöst, aber gesteuert werden. Der SPD-Innenexperte Gerd Wartenberg und FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms wiesen den Vorwurf zurück, mit der Asylrechtsänderung gäben Koalition und SPD dem Druck der Straße nach.

Der SPD-Abgeordnete Eckart Kuhlwein betonte für die Gegner der Grundgesetzänderung in seiner Fraktion: „Auch wir wollen das Asylrecht den politisch Verfolgten vorbehalten.“ Ohne Bekämpfung der Fluchtursachen, „werden wir uns einer Völkerwanderung aus Not und Elend gegenübersehen, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hat“. Auch der FDP-Abgeordnete Burkhard Hirsch sagte, das Individualrecht auf Asyl bleibe nur formal erhalten, werde in Wirklichkeit aber fast vollständig beseitigt. Dagegen betonte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), sie stehe zu dem im Dezember erzielten Kompromiß.

Konrad Weiß vom Bündnis 90/Grüne unterstrich, gerade für ehemalige DDR- Bürger, die unter der Mauer gelitten hätten, sei die Errichtung einer neuen Mauer „unerträglich“. Der Vorsitzende der Gruppe PDS/Linke Liste, Gregor Gysi, forderte die Abgeordneten auf, sich der Abschaffung eines Grundrechts zu verweigern. Der FDP-Abgeordnete Ulrich Irmer plädierte dafür, die sehr emotionalen Debatten über das Asylrecht zu beenden und aufzuräumen mit Legenden und Vorurteilen. Dazu gehöre die Behauptung, alle Wirtschaftsflüchtlinge seien Schmarotzer. Er nehme niemandem übel, wenn er wirtschaftlicher Not zu entfliehen versuche, Millionen Deutsche hätten das in der Vergangenheit auch getan. Nur könne Deutschland eben nicht alle aufnehmen.

Die Abgeordnete Dagmar Enkelmann von der PDS warf der Bundesregierung vor, Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit zu schüren. Die Ausländer würden systematisch zu Sündenböcken für alle Fehlentwicklungen im Lande gemacht. Vera Wollenberger von der Gruppe Bündnis 90/Grüne erklärte, was dem Bundestag zur Beschlußfassung vorliege, könne ohnehin nicht Wirklichkeit werden. Dazu fehlten der Exekutive die Mittel. Es könne bestenfalls abschreckende Wirkung haben.

Ernst Waltemathe von der SPD-Fraktion warnte davor, wegen angeblicher Sachzwänge ein Grundrecht über Bord zu werfen. Wer in der Asylfrage dem Zeitgeist folge, der wolle eine andere Republik. Der Bundestag hätte die Pflicht gehabt, Gesetze gegen den Mißbrauch des Asylrechts zu machen. Die Konsequenz von Mißbrauch könne nicht sein, das Grundrecht abzuschaffen. Tagesthema Seiten 2 und 3,

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