Nachschlag

■ Besinnungs- versammlung im Hansa-Viertel

Unerwarteterweise gibt's noch immer zwei Akademien der Künste in Berlin. USArts nennt sich das Begleitprogramm aus Musik, Theater, Performance, Literatur und Film zur Ausstellung „Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“: Ich lese Akademie der Künste (sonst steht da nichts) und bewege mich gewohnt gen Hansaplatz zu einem Konzert elektronischer Musik. Erst im im Saal bemerke ich, daß die auf der Bühne aufgebauten Tische und Stühle nicht etwa einer elektronisch bearbeiteten Simultanfassung von John Cages Texten „über etwas“ oder „über nichts“, sondern den Teilnehmern einer Diskussion zum Thema „Die Verrohung des Menschengeschlechts oder Demokratie ohne Moral“ als Sitzgelegenheit dienen.

Viel zu spät, um von West nach Ost zu wechseln, genieße ich die Begrüßung von Walter Jens. Mit gewohnt gedehnten Vokalen beklagt er Dreierlei. Erstens: Schulkinder, die Frühstücksfernsehen gesehen, aber nicht gefrühstückt haben und sich deswegen gegenseitig verhauen; zweitens: die armen Ost-Jugendlichen, die sich oder andere verprügeln, um das Selbstwertgefühl ihrer arbeitslosen Eltern zu verteidigen. Drittens: irgendwas dazwischen.

Dann darf Johano Strasser, akademieeigener Diskussionsleiter, die Teilnehmer vorstellen. Erhard Eppler erkennt, daß es Gesellschaft ohne Moral ohnehin nicht gibt, allein Sprache ist immer schon wertend. Die bösen Medien bekommen eins auf die Nase, und der Unterschied zwischen Arbeits- und Freizeitmoral wird konstatiert. Friedrich Schorlemmer gibt sich pastoral selbstbekennend: Er hat sich in einem bösen Soldaten im jugoslawischen Bürgerkrieg wiedererkannt. Gert Heidenreich, seines Zeichens Vorsitzender des PEN-Schriftstellerverbandes im weiß- dandyhaften Anzug, erklärt zur Moral, daß man ohnehin nur mit Ellenbogen nach oben kommt, sei's in der Schule, im Berufsleben oder sonstwo. Wie das im Schriftstellerverband ist, erklärt er leider nicht. Hans Thiersch, klassischer Fremdwort-Akademiker im marxschen Outfit, weiß zu bemerken, daß es nicht nur zwei, sondern ganz viele „Moralen“ in jedem Menschen gibt und daß man Ökologie irgendwie strukturell stärken sollte. Blieb noch Bodo Morshäuser, Youngster der Runde und Schriftsteller mit Skinhead-Spezialisierung. Er immerhin bemerkt, daß die verrohte Jugend auch als Zuhörer ausgeblieben ist und wagt ein paar Attacken gegen seine den allgemeinen Verfall beklagenden Mitdiskutanten.

In einem aber sind sich alle einig: Die Medien sind die Bösen, was die alles schreiben. Schön, denk' ich mir, wenigstens ein Feindbild haben sie noch. Und gehe. Was die da diskutieren, mußte unsereins bereits in sämtlichen Zehntklass-Schulaufsätzen bis zum Überdruß durchkauen. Fred Freytag