: "Verführung" für Raser
■ Serie: Berlins schlimmste Straßen (2): Die Werbellinstraße in Neukölln forderte in fünf Jahren vier Todesopfer / Bürgerinitiative verlangt "unverzüglich" eine Ampel
Vier tödliche Verkehrsunfälle in fünf Jahren, das ist die traurige Bilanz: In der Neuköllner Werbellinstraße wollen die Anwohner nicht mehr zusehen, wie immer und immer wieder Menschen vor ihrer Haustür sterben, weil Autos durch ihre Straße schießen. Sie fordern eine Tempo-30-Zone, einen gesicherten Fahrradweg und eine Ampel. „Unverzüglich! Jeder Aufschub kann weitere Verkehrsopfer bringen“, so die Bürgerinitiative Werbellinstraße. Sie ruft für Donnerstag zu einer Bürgerversammlung mit Kundgebung sowie zu einer Straßenblockade auf, teilte Sprecher Ulrich Clemens mit.
In der „Studie zur stadtverträglichen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz-Verkehr“, die die taz seit gestern in einer zehnteiligen Serie genauer vorstellt, taucht die Werbellinstraße gar nicht auf. Die Gutachtergruppe der Berliner Gesellschaft für Informatik, Verkehrs- und Umweltplanung mbH und die Berliner Forschungsgruppe Stadt und Verkehr, die die Studie im Auftrag des Senats anfertigte, hat nur Hauptstraßen untersucht. Die Ergebnisse sind verheerend – ein Großteil der untersuchten Straßen überschreitet die Alarmwerte gleich bei mehreren der angelegten „sicherheitsrelevanten Größen“. Doch wer glaubt, daß es in den Nebenstraßen sicher sei, wird durch das tragische Beispiel der Werbellinstraße eines Schlechteren belehrt. 1988 wurde ein spielendes Kind überfahren. Ein Jahr später kam ein alter Mann bei einem Unfall ums Leben, 1991 starb ein achtjähriges Mädchen. Und am 20. April diesen Jahres wurde der sechsjährige Stephen vor den Augen seines Bruders von einem BSR-Müllwagen überfahren. Die AnwohnerInnen der Straße haben sich nun zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen. Neben den Kindern seien gerade Senioren stark gefährdet; am Donnerstag soll die Werbellinstraße daher vor dem Seniorenzentrum an der Morusstraße blockiert werden. Die Straße zwischen den ohnehin unfallträchtigen Hauptachsen Hermann- und Karl-Marx-Straße verführt offenbar zum Rasen: Entlang der Kindl-Brauerei steigt sie stark an und fällt ebenso deutlich wieder ab. Zudem ließe sie in der Breite je zwei Richtungsspuren zu, die jedoch als solche nicht eingezeichnet sind. So präsentiert sich den Autofahrern eine breite Fahrbahn, die steil zum Ziel hin abfällt. Für Passanten ist es nur schwer möglich, das Tempo der herannahenden Autos abzuschätzen.
Die Aufstellung der mittlerweile auch vom Neuköllner Baustadtrat Manegold geforderten Ampel scheiterte bislang am fehlenden Geld im Stadtsäckel: 150.000 bis 350.000 Mark würde sie kosten. Üblicherweise beziffern Bürokraten jedoch die volkswirtschaftlichen Kosten eines tödlichen Verkehrsunfalls mit über einer Million Mark, wohlwissend, daß sich der Verlust eines Menschenlebens überhaupt nicht in Mark und Pfennig ausdrücken läßt. Doch selbst aus Sicht des zynischsten Buchhalters hätte sich eine Lichtzeichenanlage also längst amortisiert. Oder sollte es daran scheitern, daß die unterschiedlichen Kosten aus verschiedenen Etattöpfen bezahlt werden? Christian Arns
Bürgerversammlung mit Kundgebung und Straßenblockade: 3. Juni, 18 Uhr vor dem Seniorenzentrum, Werbellin-/Ecke Morusstraße.
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