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Die Stimmung unter den Türken hat sich radikalisiert

■ Der türkische Schriftsteller Zafer Senoçak fordert mehr politischen Druck und den Mut zu Regelverletzungen von den türkischen Verbänden in Berlin

taz: Hat sich die Stimmung der türkischen Berliner in den letzten Tagen verändert?

Zafer Senoçak: Die Stimmung hat sich radikalisiert. Trotz der abwiegelnden Mahnungen sowohl von türkischer Seite als auch von deutschen Politikern hat sich eine Wut entwickelt – auch ein bißchen gegen die türkischen Repräsentanten gerichtet. Man versteht die Zurückhaltung der türkischen Politiker nicht.

Spielt dabei eine Rolle, daß von deutscher Seite nur die gleichen Erklärungen kommen wie nach Mölln?

Unbedingt spielt diese Erfahrung eine Rolle. Bis heute gibt es keinen einzigen deutschen Politiker, der sagt, wir sind mit schuld. Das aber wird erwartet. Mittlerweise wird sogar erwartet, daß die deutsche Regierung zurücktritt. Die Stimmung wird sich weiter radikalisieren, wenn es keine politischen Konsequenzen gibt. Das ist doch nicht zu verstehen: Bei jeder Kleinigkeit gibt es politische Konsequenzen, und bei dieser Geschichte gibt es überhaupt nichts.

Wird unter türkischen Berlinern nun auch über andere Aktionsformen nachgedacht?

Das passiert schon. Die Autobahnblockaden der letzten Tage sind beispielsweise eine Erfindung der Türken. Das wird wohl als Protestform bleiben, weil es auffällt und weil das Auto im Mittelpunkt deutschen Lebens steht. Furchtbar wäre es aber, wenn die Proteste in die Richtung einer sinnlosen Gewalt gingen.

Aber die türkischen Organisationen in Berlin tun für die Interessenvertretung ihrer Landsleute zuwenig?

Mittlerweise gibt es eine Differenz zwischen dem Gefühl der Wut der türkischen Leute auf der Straße und den Verbänden.

Die Verbände — und vor allem die türkische Gemeinde — haben noch nicht erfaßt, daß es jetzt darum geht, politischen Druck zu machen und vom Objektdasein zum Subjektdasein zu kommen: Türken wollen nicht länger die Opfer sein, also die Objekte der Politik, sondern sie möchten auch Subjekte sein. Das ist besonders ein Gefühl der jungen Menschen.

Es passiert zwar jetzt einiges, aber es ist noch immer nicht ausreichend: Es müssen mehr Vorschläge kommen, deutlichere Vorschläge kommen, es muß eine andere Sprache herrschen als die Sprache der deutschen Politiker. Ich vermisse den Willen, politisch etwas zu erreichen. Die Erklärung der türkischen Gemeinde zu Solingen unterscheidet sich nicht von deutschen Politikern – wen repräsentieren diese Herrschaften eigentlich?

Zu fordern, der Staat müsse seine Pflichten gegenüber den türkischen Steuerzahlern erfüllen und diese endlich schützen, ist Ihnen zuwenig?

Das kann ich nicht mehr hören. Das ist doch so etwas von selbstverständlich. Sicher wird der Staat reagieren, aber das wird nicht ausreichen. Jetzt muß man eine andere Politik machen.

Türkische Verbände müssen den deutschen Politikern klarmachen, daß es zu Katastrophen kommen kann, wenn jetzt nicht etwas geschieht. Das vermisse ich sowohl bei der Erklärung des Botschafters als auch bei der Erklärungen der türkischen Politiker in Berlin.

Sie stellen sich eine selbstverständlichere Inanspruchnahme demokratischer Protestformen vor?

Man hat bisher nicht Anschluß gefunden an die Formen des passiven Widerstands und keinen Mut zu Regelverletzungen. Man kann über Grenzen diskutieren, aber man muß die Diskussion überhaupt führen, sonst entgleitet das völlig: Dann gibt es vielleicht Selbstjustiz, oder die Jungs gehen auf die Straße und hauen einfach drauf.

Es muß verhindert werden, daß sich die Wut als sinnlose Gewalt artikuliert, was die Sache nur verschlimmern kann. Vielmehr muß man das so kanalisieren, daß sinnvolle Aktionen daraus entstehen. Das Gespräch führte

Gerd Nowakowski

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