: Dr. Faustus lichtet die Lichter
Wolfgang Max Faust schreibt das Buch zu Aids: Eine Geste, die vor dem Verwerfen haltmacht ■ Von Ulf Erdmann Ziegler
I
Rund eine Stunde dauerte der Kampf in meiner Brust: Kann man eine neue Leonardo-Biographie unters Bett schieben, weil der nagelneue Wolfgang Max Faust eingetroffen ist, ein fettes, bonbonrotes Buch in einem wächsernem Soziologiebucheinband, betitelt: „Dies alles gibt es also. Alltag, Kunst, Aids. Ein biographischer Bericht“? Man kann.
Natürlich, sagt I., interessiert dich das. Tratsch.
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Der Anfang ist gut gemacht, der Zeitpunkt gut gewählt. Es ist der berühmte prächtige Sommer der Literatur, der dann ein lastender, quälender wird. Indem die Grenzen von innen und außen sich auflösen, verschmelzen glaubhaft Empfindung und Urteil, bilden ein unheimliches Gemisch. Ein Freund, aidskrank, hat seine Stelle bei der Akademie der Künste aufgegeben und kündigt an, sich am Dienstag der folgenden Woche das Leben nehmen zu wollen. Telefonate, die versanden, Taxifahrten zu seiner leeren Wohnung. Ein dramatischer Abschied, der auch ein melodramatischer sein könnte:
„Klaus: ,Nun heißt es Abschiednehmen. Du weißt, wie ich mich entschieden habe. Das Haus ist bestellt.‘ (...) Bei der Umarmung an der Etagentür schlug sein Herz so laut, daß ich es hören konnte.“
Inzwischen hat die „documenta IX“ in Kassel begonnen. Faust zitiert erste Kritiken, bizarrerweise aus der Frankfurter Rundschau und der Welt. Ich frage mich: Versucht er sich Gewißheiten zu verschaffen, oder plündert er Quellen aus Lust an der Plünderung? Der Tagebuchschreiber fährt nicht nach Kassel, sondern schreibt sein Tagebuch. Klaus hat seinen Selbstmord um eine Woche verschoben. Schließlich scheint er von seinem Plan abzulassen.
Aids als sich ereignender, zersetzender Tod in unheimlichen Schüben, und darübergelegt die tickende Uhr eines „Willens“: die gegenstrebige Fügung von Endzeit und Ende, Morbidezza und Grandeur, Verfall und Entschluß. Faust liest den Aufsatz von Tilman Krause im Berliner Tagesspiegel, in dem er von Aids als einer „Kulturrevolution“ spricht, „deren Ausmaße wir noch gar nicht abschätzen können“. Krause hatte gefragt, warum die deutschen Romanautoren auf Aids nicht reagieren. Und Faust notiert, kokett zwischen Sternchen:
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„Doch: Brauchen wir ,Romane‘?“
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„Dies alles gibt es also“ ist eine ernst gemeinte Antwort auf eine von Faust erkannte Krise der Form. Es ist – wie nach dem Spiegel-Interview im März klar war – ein Abschied des Kritikers von der Kritik, aber wie sich auf den insgesamt 400 Seiten zeigt, auch eine wuchernde Konstruktion kreuz und quer durch die Genres: die Sammlung der Essays und Kritiken, den Krankheitsbericht, den Schlüsselroman, das Lieblingsbilderbuch, die Memoiren, die Aphorismensammlung. Vor allem ist es ein als Manuskript gedruckter Bericht über den Versuch, sich Rechenschaft abzulegen, das Entschwindende zu greifen, die eigenen Werte zu revidieren. Es gibt, bis in orthographische Fehler hinein, keine rückläufigen Korrekturen. Was irrig ist, wird als solches verzeichnet. Dreieinhalb Monate später wird das Projekt eher abgebrochen als beendet. Der spätere Freitod von Klaus Ebbeke, der nun mit vollem Namen genannt wird, ist als Notiz nachgetragen.
II
Griff ins Bücherregal: „Wolfgang Max Faust, 1944 geboren, Studium der Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie in Göttingen und West-Berlin. Nach der Promotion 1976 Lehrtätigkeit an der Technischen Universität Berlin, an der Hochschule der Künste Berlin, am San Francisco Art Institute, an der New York School for Social Research/Parson School of Design, New York. Autor der Bücher: ,Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von Bildender Kunst und Literatur‘ (1977, Neuausgabe 1987) und ,Hunger nach Bildern. Deutsche Malerei der Gegenwart‘ (1982, zusammen mit Gerd de Vries). Ausstellungsorganisator und Katalogherausgeber. Von 1988 bis 1990 Chefredakteur der Zeitschrift ,Wolkenkratzer Art Journal‘ (Frankfurt). Vortragsreisen durch Großbritannien, Italien, Israel, Frankreich, Finnland, die USA und Kanada. Lebt und arbeitet als Dozent und Kunstkritiker in West-Berlin“ (aus dem Katalog zu „Die Endlichkeit der Freiheit“, Berlin 1990).
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Ich lernte Faust gegen Ende der achtziger Jahre kennen; damals muß er etwa in Erfahrung gebracht haben, daß er HIV-positiv ist, auch wenn er es länger schon geahnt hatte. Er hat von vornherein auf mich nicht alters-, aber irgendwie generationslos gewirkt. Das Eulenhafte in seiner Augenpartie erschien mir wie seine Verbindung zum Altertum. Eine seltene Mischung aus Weisheit und List.
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Das Leben von jemand, der seine Chance im Kommentar sieht, aber die Chance wird natürlich sein Schicksal. Jetzt versucht er, am (imaginierten) Ende seines Lebens, dieses Schicksal von sich abzustreifen. Er kolportiert einige Demütigungen, von denen die stechendste diese ist: Faust macht sich, am Mittag vor der Eröffnung, Notizen zur Ausstellung „BerlinArt“ im New Yorker Museum of Modern Art (1987). Er soll zum Thema einen Vortrag halten. Da betritt der Kurator der Ausstellung die Räume „mit einer Gruppe elegant gekleideter Männer und Frauen“. Es sind die Mitglieder des „Board of Trustees“. Der Kurator bittet Faust, die Räume zu verlassen. Die Honoratioren lieben es nicht, wenn bei ihrem Preview- Termin „noch anderes Publikum anwesend ist“. Faust:
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„Die retrospektiven Genies dieses Jahrhunderts waren Familienväter: Picasso und Beuys. Die prospektiven (Duchamp, Warhol, Cage) blieben ,Junggesellen‘.“
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Gäbe es nicht die kleinen schwarzweißen Bilder auf der breiten Marginalienspalte – und im dritten Teil des Buchs dann ganzseitig – man könnte meinen, Faust wende sich ab von der Kunst. Tatsächlich löst er sich aus einem Kontext. Die Nähe der Kunst zum „großen Geld“, die ihn einst, wie er gesteht, fasziniert hat, ekelt ihn jetzt. Er sieht sich als „intellektuelles Dessert“ einer mächtigen amerikanischen Schickeria, als billig ausgetrickster Bewerber für eine Professur an der Berliner Hochschule der Künste. Der Kölner Galerist Paul Maenz warnt ihn, mit seinem Buch werde er die „Hildegard Knef der Kunstwissenschaft“.
Über wichtige Bezüge zum Betrieb sagt er nichts, nichts von Belang. Nichts über seine Freundschaft zu Paul Maenz, zum Marktdurchbruch der „wilden“ Kölner und Berliner Maler, zur Marktabhängigkeit und zum Ende der Kunstzeitschrift Wolkenkratzer.
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Statt dessen versucht sich Faust an einer Theorie zum Verschwinden der Kunst – ein kleines, schwarzes Gespenst, das er im Laufe des vergangenen Jahres hinausgeschickt hat, um die Szene das Fürchten zu lehren. Die Avantgarden am Anfang des Jahrhunderts sieht Faust noch gefangen in globalen Krisen, die neuen Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg als eigentlichen großen Schritt moderner Kunst. Mitte der 60er Jahre, sagt Faust (er selbst war noch in der Pubertät), „beginnen die Wiederaufnahmen, die Revisionen, das Weitermachen“. Die Maler werden für ihre Überproduktion, die Minimalisten für die Wiederholung kritisiert. Was dann kommt, ist die „Überdehnung der Moderne“. Auch Cage kann man mißbrauchen wie Mozart (und Mozart wie Heino), und gefährlicher noch als die Produzenten und Sponsoren scheint das Publikum selbst zu sein, das in der Kunst eine falsche „Lebenshilfe“ sucht und findet; es ist natürlich das Publikum vor allem einer erfolgreichen Kritik.
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Insofern folgt Faust dem Duktus des Künstlers, der dem Gebaren des Begehrenden ähnelt: sich ins Spiel bringen/sich verweigern.
Und plötzlich, als er in der Schnellschreibphase gegen Ende sein Thema (das wohl mehr der Schlitten seiner Fahrt war als deren Grund) schon fast verloren hat, staunt er selbst über seinen Geistesblitz:
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„,Seltsam vergreist wirkt die Kunst der jungen Generation heute“, denke ich. „Die Überdehnung der Moderne raubt ihr die Jugend. Leben aus zweiter Hand. Überall ein Reflex auf das, was schon war.‘“ Im Detail nachlässig, kommt Faust im Allgemeinen an einen wesentlichen Punkt des Unmuts. Er berührt die authentische Stelle, mit der ein Rückzug aus zeitgenössischer Kunst zu begründen wäre. Künstler haben sich auf Rollen eingelassen, die niemand mehr glaubhaft spielen kann: des Berufenen;
Fortsetzung Seite 16
Fortsetzung von Seite 15
dessen, der ein Geheimnis trägt; dessen, der die Magie des Schönen bannt und schmäht; dessen, der mit der Loslösung von der Zweckbestimmung „der Gesellschaft den Spiegel vorhält“. Auch die Künstler und Künstlerinnen, die leugnen, so zu denken, denken insgeheim genau so. Man kann es nachlesen in den bemühten, überdrehten Katalogtexten, die sie für sich schreiben lassen.
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„Menschwerden ist eine Kunst“, stellt Faust mit Novalis dagegen, aber die Wendung überzeugt nicht. Sie ist letztlich den Argumentationen der frühen Avantgarden entlehnt, in denen Kunstkonzepte zu Gesellschaftskonzepten überhöht werden. Ganz gleich, ob die Schwelle des Übergangs im Inviduum liegt oder im Kollektiv. Nun ist es allerdings Fausts Vorteil, daß in der panischen Situation, die er erlebt (und natürlich inszeniert), dieser Übergang nicht demonstriert werden muß. Fausts Buch hat ja eine ganz andere Richtung, den Abschied, die melancholische Variante der Metamorphose. Doktor Faustus löscht die Lampen, lichtet die Lichter.
III
Der erste Teil des Buches – genannt: „Erstes Buch“ – ist in drei Monaten geschrieben und entfaltet die Imagination einer als persönlich empfundenen Zeit, einer zwischen bekannten Orten aufgespannten Biographie, die einer Wende, einer Wandlung entgegensteuert. Handke hatte in den Siebzigern diese Leichtigkeit.
Die folgenden 230 Seiten sind in vierzehn Tagen geschrieben beziehungsweise montiert; das „Zweite Buch“ ist vielleicht das Interieur des „Ersten Buchs“ und das „Dritte Buch“ so etwas wie der Besuch auf dem Dachboden, ein Stöbern in entlegenen und auch persönlichen Quellen. Faust arbeitet hart daran, sich seiner Theorie vom Verschwinden der Kunst zu entledigen, sein Stilempfinden als Neigung offenzulegen, den Tratsch in Ressentiment zu überführen. Er übt sich in Bekenntnissen – zur subjektiven Souveränität des Schattenboxers, zum Beispiel, oder zu Details beim Empfinden analer Lust (und ihrer Bedeutung); er bastelt nicht an einer Legitimation, die – gegen ihn gewendet – die Illigitimität seine Unterfangens belegen könnte.
Für die eher therapeutischen Passagen der Selbstbefragung werden Leserinnen und Leser allerdings im zweiten Teil durch rührende Anekdoten über Kindheit und erste Liebe (zu einem Jungen namens Rolf) vollauf entschädigt. Die Geburt des Kindes während eines Luftangriffs wird erzählt; es folgt eine behütete Kindheit in Wuppertal, aus der sich die Selbstsicherheit des Bildungsbürgers erklärt, die dann das Marschgepäck ist für die Emanzipation von überlebten Ideen und regionalen Bindungen. Faust:
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„Siegfried. Da ich als Kind unter der Ichthyosis litt, war meine Haut rauh und schuppig. Die Sage von Siegfried faszinierte mich deshalb wohl besonders. Das Drachenblut hatte auch ihn mit einem Hautpanzer versehen. Das Lindenblatt war die verwundbare Stelle.
Die Szene seines Todes spielte ich in meiner Phantasie immer wieder durch. So intensiv, daß ich meine Mutter bitten wollte, mir ein kleines Kreuz auf den Rücken des Pullovers zu sticken. Ich sagte es ihr nicht.“
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Nun antizipiert er seinen Tod in einer Geste des Staunens: „Dies alles gibt es also“, die kurz vor dem Verwerfen haltmacht. Als guter Leser weiß er, daß der Zettelkasten wertlos ist ohne den plot, den großen Bogen: Es ist der schleichende Tod des Freundes Christian Borngräber. Borngräber ist Spezialist für Design und hat das postmoderne Berliner Design in den achtzigern bekannt gemacht. Hierin ähnelt er Faust, auch wenn Fausts Apologie der neoexpressionistischen Malerei (und seine bedingte Abkehr) wohl noch erfolgreicher war. Während der Freund auf der Aids-Station im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin verfällt, flackernd auflebt, den Schrecken alltäglich verkörpert, ist auch von ihm ein Buch in der Produktion, dessen Erscheinen er noch zu erleben hofft.
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Sein Buch, mein Buch, die Verdoppelung als Relais, als metaphorische Schaltung: „Du spielst eine wichtige Rolle in meinem Buch“, sagt Faust zu Borngräber, und der antwortet: „Ich weiß.“
So erklärt sich vielleicht die Eile beim Schreiben von „Dies alles gibt es also“: Das Buch hält den Antagonismus von „Sterben müssen“ und „ein Werk hinterlassen“ offen, es will (entgegen der ihm vorauseilenden Gerüchte) in keiner Weise postum sein.
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Vollbild Aids sei seine Diagnose, schreibt Wolfgang Max Faust. Wie der Auferstandene selbst sieht man ihn vor Studenten sprechen, im Lichthof des Martin-Gropius- Baus sein Buch vorzeigen, einige Tage später in der Akademie der Künste vor 250 Leuten daraus lesen. Das Titelfoto zeigt Lucio Fontanas Hand, wie er mit einem Nagel eine Leinwand löchert: An dieser Stelle begann, unterstelle ich, für Faust jenes Erschrecken, das sogleich in Faszination umschlägt, die Initiation in den Lebens- und Sterbenszirkel der Künste.
Und was für manche vor dreißig Jahren Fontana war, ist für andere vielleicht – Faust. Faust:
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„,Jedes Kunstwerk ist eine Verzauberung‘, sagte ich gestern beim Hören von Chopin zu Eckehard. ,Und es ist auch eine Konstruktion‘, erwiderte er.“
Wolfgang Max Faust: „Dies alles gibt es also. Alltag Kunst Aids. Ein autobiographischer Bericht“ – Edition Cantz, 408 S., ca. 130 Bilder, schwarzweiß, 44 DM
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