■ John Vinocur: Eine neue, gute deutsche Politik, bitte!
: Kohl – von Normalität besessen

Man glaubt hier, daß Kohl ein ausgezeichneter Politiker ist. Kein Genie, schwerlich der verführerische Typus, machte er Karriere, eben weil er seine WählerInnen verstand. 1983 gewann er die Wahlen zum Bundeskanzler eben nicht dadurch, daß er die Pershing und Cruise Missiles, die er aufzufahren schwor, auf seine Fahnen schrieb, sondern indem er auf der Welle eines lokalen ökonomischen Booms ritt, den der Rest der Welt ignorierte.

1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, war er der erste, der einen Riecher für die kommende deutsche Vereinigung hatte. Entsprechend hielt er eine Grundsatzrede, ohne auch nur die Alliierten zuvor informiert zu haben. Und wandte sich gen Osten, um die frohe Kunde zu bringen und die Massen in Dresden und Leipzig zu umarmen – während Michael Gorbatschow immer noch von einem vereinten Deutschland vielleicht einmal im nächsten Jahrhundert sprach.

Manchmal jedoch laviert Helmut Kohl. Als für das neue Deutschland die Zeit kam, endgültig und mit einer versichernden Erklärung die Grenze zu Polen (die Oder-Neisse-Linie) zu markieren, da bummelte er, wollte mit seinem rechten Flügel handelseinig werden, verärgerte die Amerikaner, die Franzosen und die Polen, um den Vertrag dann doch noch unter Dach und Fach zu bringen.

Und manchmal greift Helmut Kohl zum Symbolismus. Dann, wenn er die Bühnenausstattung mag und weiß, daß sein Publikum dies auch gern so hätte, dann drückt er auch mal ganz fest eine Hand. An einem traurigen Tag, der des 1.Weltkriegs gedenken sollte, da nahm er François Mitterrands Hand in die seine, drückte sie lange genug, damit die Geste filmisch im Kasten war und erreichte somit eine bahnbrechende Referenz – Ihr Kind könnte es dereinst in einem Schulbuch entdecken – an die deutsch-französische Versöhnung.

Was man aber nicht im Schulbuch sieht, in keiner Zeitung oder im Fernsehen, sind Bilder von einem Helmut Kohl, der ein türkisches Kind oder eine Mutter in die Arme nimmt, während er ein ausgebranntes Haus besichtigt. Oder daß er sogar die Hand eines Mannes drückte, dessen Frau und Kinder gerade von deutschen Extremisten ermordet wurden. Genau so wie er jede dramatische persönliche Geste des Mitleids und der Annäherung seit den Angriffen auf Ausländer zu verhindern wußte, so ließ er am Montag eine Chance verstreichen, im Fernsehen über die fünf neuen Morde an den Türkinnen in Solingen zu sprechen.

Die Prämisse dieses Artikels ist ja, Helmut Kohl sei ein ausgezeichneter Politiker. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß selbst unter den jetzigen Bedingungen (Zwanzig Tote und Tausende von Übergriffen in den letzten zwei Jahren) Helmut Kohl zu glauben scheint, seine WählerInnen wollten ihn nicht als einen Kanzler sehen, der ein türkisches Opfer umarmt, oder, schlimmer noch, in einer Art symbolischer Entsprechung zu einem Willy Brandt, der vor einem Warschauer Ghetto- Denkmal niederkniet. Sicherlich, es gab schriftliche zerknirschte Stellungnahmen der Regierung. Aber Regierungssprecher Dieter Vogel sprach mit bemerkenswerter Verachtung von „Beleidstourismus“.

Worum geht es hier eigentlich? Helmut Kohl ist nicht bigott, und er kungelt nicht mit einem Wählerpotential, das Mord und Rassismus unterstützt. Eher verteidigt er eine der ihn antreibenden Ideen seines Lebens – die, daß das moderne Deutschland ein normales Land geworden sei, daß seine Geschichte nicht reflexartig mit der Nazi-Zeit verknüpft werden dürfe, und daß die zu verachtenden Übergriffe gegen Ausländer nicht Signal für eine übertriebene neue Buße oder Warnungen vor einer rassistischen Katastrophe sein solle.

Die Idee ist wie der Mann. Sie ist vernünftig, aber kleinbürgerlich. Sie besteht auf Normalität, weil Normalität in Deutschland ein Wert an sich ist. Wenn der Kanzler zum Teilnehmer einer nationalen Selbst-Suche würde, einer emotionalen und psychischen Autopsie, wäre es mit der bisher vorausgesetzten Vorstellung von „Normalität“ vorbei. Sollte Deutschland doch nicht auf die Weise normal sein, auf der Helmut Kohl insistiert, so würde die Tür für eine Reihe den Kanzler ängstigender Fragen aufgestoßen werden: Warum sollte Deutschland einen Sitz im Weltsicherheitsrat erhalten? Warum sollte die zukünftige Europäische Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt haben? Warum sollte jedermann den Direktiven der Bundesbank folgen, die heute praktisch die europäische Wirtschaftspolitik bestimmt?

Überall geht es um eine neue Definition von Normalität. Alte moralische Gewißheiten schwinden und die Menschen werden durch den Wandel buchstäblich vor den Kopf gestoßen. Helmut Kohl aber verbindet sich mit jenen Symbolen der Realität, für die die Rückkehr der Asche Friedrichs des Großen aus Süddeutschland nach Potsdam steht, einer Kranzniederlegung auf einem Friedhof, wo Soldaten der Waffen-SS liegen und einem Besuch bei Kurt Waldheim, damals noch Bundespräsident Österreichs.In einem Land mit einer langen Tradition für zweierlei Botschaften, einer für den ausländischen Gebrauch und einer fürs Inland, kann ein Skinhead mit Hakenkreuztätowierung leicht für eine Nachrichtenstörung sorgen.

Tatsache ist: Wenn nicht etwas Starkes, Massives, emotional Bedeutsames gegenüber dem Terrorismus gegen Ausländer in Deutschland passiert, wird der relativ bedeutungslose Haufen von Neonazis wie ein Unstern über allen deutschen Aktionen leuchten, ein Makel, von dem Kohl sich so gerne hätte befreien wollen.

Ein solcher Unstern ist nicht gerade das, was die deutsche Nation angesichts einer verheerenden ökonomischen Entwicklung, angesichts politischer Skandale, weitverbreiteter Unzufriedenheit und eines wachsenden Antagonismus' zwischen den Deutschen in Ost und West braucht. Normalität nach der gegenwärtigen Definition Helmut Kohls erweist sich als unzureichende Botschaft für ein Land wie Deutschland, das inmitten seiner Enttäuschungen, seiner Energien, seiner Obsessionen nach einer Neubestimmung seiner Identität und seiner Rolle suchen muß.

Übertreibung und erhobene Zeigefinger wirken im Deutschen genauso verdächtig wie in allen anderen Sprachen, aber genau sie sind es, mit deren Hilfe Helmut Kohl in der heutigen Situation wirklich Politik machen könnte. Er sollte die Führung bei dem notwendigen Schritt übernehmen, das allein geltende ethnische Kriterium für die Bestimmung des „Deutschseins“ im Staatsbürgerrecht zu beseitigen. Er sollte vorangehen bei der Ausarbeitung eines neuen Einwanderungsgesetzes, das das Land bereichern würde, er sollte den Weg für eine doppelte Staatsangehörigkeit ebnen. Und er sollte der Vorstellung den Boden entziehen, daß Überlegungen der „Rassenreinheit“ das Verfassungsverständnis und das Regierungshandeln in Deutschland bestimmen. Handelte Kohl so, so wäre dies ein Zeichen dafür, daß Deutschland gemäß einer neuen Normalität agiert, einer Realität des Wandels, in der Deutschsein eins wäre mit Mut, Einbildungskraft und Vernunft.

Bisher wurde vorausgesetzt, daß Helmut Kohl ein exzellenter Politiker ist. Nun kann er es, ohne zu lavieren, auf einem schwieriger gewordenen Gelände beweisen.

Einer der führenden Redakteure der Europa- Ausgabe der „International Herald Tribune“; Übersetzung: CS und AS