: „Scheißen + pinkeln auf den Boden“
■ Vom „Café Achteck“ zur mikroprozessorengesteuerten City-Toilette / 1860 gab es in Berlin eine einzige Bedürfnisanstalt / 1876 entstanden die ersten Stehanstalten
Selbst ein Blinder würde den Zugang zur Toilette im Bahnhof Friedrichstraße finden. Der unverkennbare Uringestank „weist“ ihm den Weg. Mit jeder Stufe hinab in die unterirdische Bedürfnisanstalt nimmt der Geruch zu. Auch die Blümchen-Abziehbilder auf den orangefarbenen Kacheln aus DDR-Zeiten, als sich Reisende aus kapitalistischem Feindesland wegen der Kontrollen vor Nervosität im wahrsten Sinne des Wortes fast in die Westhose gemacht haben – lenken nicht vom Toilettenmief ab. Damals mußten 0,30 DDR-Mark berappt werden, jetzt frißt der Einwurf unter der Türklinke 0,50 Mark.
Für den Fall, daß man kein Fünfzigpfennigstück parat hat, gibt es eine Kundenklingel. Wird diese betätigt, erscheint Günther Guderley, einer der Anlagenwärter. Ob in den neun Jahren, die er schon da arbeitet, irgendetwas besonderes passiert sei? „Was soll hier schon passieren. Gar nichts. Eine rumänische Frau hatte mal eine Fehlgeburt. Das war, als die ganzen Rumänen oben im Bahnhof auf Pappkartons rumlagen. Ansonsten scheißen und pinkeln die Leute auf den Boden.“ Wenn sein Dienst 22 Uhr endet, müssen Sträucher und Bäume im Freien die zehn Damen- und vier Herrentoiletten ersetzen.
Von den 290 WCs, über die Berlin verfügt, werden nur sehr wenige benutzt. Viele sind geschlossen, andere so vergammelt, daß es zum Himmel stinkt. Es ist fast wie im Jahre 1860, als es in ganz Berlin nur eine einzige öffentliche Bedürfnisanstalt, in der Nähe der Nikolaikirche, gab.
Es war der damalige Berliner Polizeipräsident Zedlitz-Neukirch, der sich mit folgenden Worten für die Bedürfnisse der Berliner einsetzte: „Nun gibt es also in der That ... gewisse Bedürfnisse eines großstädtischen Publikums, welche auf den öffentlichen Straßen befriedigt sein wollen und ... in geregelter, den Anstand und die Ordnung nicht verletzender Weise nur durch Herstellung öffentlicher Einrichtungen befriedigt werden können.“
Ganze sechzehn Jahre mußten die Berliner warten, bis 1876 die ersten 56 „Stehanstalten“ aufgestellt wurden. Erst als das Eigentum am Straßenland vom Fiskus auf den Magistrat überging, endeten die Querelen. Der Magistrat übertrug Ernst Litfaß, dem Erfinder der nach ihm benannten Reklamesäule, die Konzession, „zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen“ die von ihm entwickelte Säule auf öffentlichem Straßenland aufzustellen. Als Gegenleistung sollte Litfaß 50 städtische Bedürfnisanstalten umbauen. So wurden aus den Stehanstalten gußeiserne, achteckige Häuschen, die sogenannten Café Achtecks. Litfaß würde sich in seinem Grabe auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof umdrehen, wenn er sehen könnte, in welch erbärmlichem Zustand sich die grün gestrichenen Pissoirs heute befinden. Das Stehpissoir am Camissoplatz aus dem Jahre 1893 ist traurig anzusehen. Die grüne Farbe ähnelt einem Blätterteig, der Rost ist dabei, Besitz zu ergreifen von der historischen Bedürfnisstätte, mehrere Schichten vergilbter Plakate künden von längst vergessenen Veranstaltungen. Auch auf dem verrosteten Dach sprießen Grashalme, die Scheiben sind kaputt und leere Bierflaschen liegen überall herum. Nur der typische Gestank nach Urin fehlt. Kein Wunder. Ein Bauzaun versperrt seit Jahren den Zugang.
Die älteste erhaltene Bedürfnisanstalt der Stadt steht in der Frankfurter Allee in Lichtenberg. Das unterirdische WC aus dem Jahre 1883 ist wegen erheblicher baulicher Mängel und fehlender Gelder zur Instandsetzung geschlossen. Der Bezirk Friedrichshain dagegen ist auf der „Höhe der Toilettenzeit“. Dort wurden vor zwei Jahren zwei City-Toiletten der Berliner Firma Wall Verkehrsanlagen GmbH installiert. Die neue City-Toilette ist gewiß – ebenso wie die neuen Telefonkabinen – gewöhnungsbedürftig. Materialien wie Keramik, Fliesen, Granit, Edelstahl, Sicherheitsglas und modernste Mikroprozessorensteuerung muten futuristisch an.
Die modernen Toiletten können Behinderte und Nichtbehinderte gleichermaßen benutzen. Im Gegensatz zu Behinderten, die mit einem Schlüssel kostenlos Zugang haben, kostet Nichtbehinderten das Toilettenerlebnis mit Air Condition, musikalischer Untermalung und indirekter Beleuchtung 0,50 Mark (auch mit einzelnen Groschen möglich). Ergonomische Haltegriffe, unterfahrbare Handwaschbecken und eine Zeitverlängerungstaste von zwanzig Minuten bietet Behinderten viel Komfort. In Notfällen sorgt eine Notruftaste für das Aussenden akustischer Signale nach außen.
Bei der Ausstattung im Innern der City-Toilette wurde sogar an Blindenschrift gedacht. Trotzdem würde der Geruchssinn eines Nicht-Sehenden beim neuen High- Tech-Klo glatt versagen. Im Kampf gegen den Uringeruch erfolgt nach jedem Gebrauch eine automatische Säuberung und Desinfizierung. Außerdem werden die Behindertentoiletten zusätzlich drei mal am Tag von Reinigungspersonal gesäubert. Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen