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: „Safer Sex“ statt Angst vor Strafen

Experten zufolge gibt es in den GUS-Staaten etwa 30.000 Aids-Infizierte. Die offizielle Statistik ist bei weitem bescheidener – 627 Virus-Träger sind bekannt. Eine Zahl, die nicht weiter beunruhigend wäre, wenn nicht die überwältigende Mehrheit dieser Infizierten bekanntgeben würde, mit weiteren BürgerInnen unseres Vaterlandes Geschlechtsverkehr zu unterhalten. Und dies ist vor allem aus folgendem Grunde wichtig: wir können die Krankheit jetzt schon nicht mehr, wie es früher geschah, als einen ausländischen Faktor bezeichnen, der uns nur zufällig streift. Jetzt ist sie eine feste Größe unseres staatlichen Raumes, und die prophylaktischen Maßnahmen dürften sich nicht mehr auf die Deportation von Bürgern anderer Staaten beschränken.

Zum ersten Male war bei uns im Jahre 1988 öffentlich von Aids die Rede, als in der Stadt Ellista im unteren Wolga-Gebiet Neugeborene in einem Krankenhaus infiziert wurden. Als nächster Schritt wurde im Frühjahr 1992 ein Regierungsprogramm zur Aids-Bekämpfung verkündet. Das Ganze war charakteristisch für die staatliche Jugendpolitik und ließ sich auf eine Art Merksatz reduzieren: Laß dich nicht mit Prostituierten ein, werde nicht drogensüchtig und erst recht nicht homosexuell! – und damit hatte es sich. Man bezeichnete diese drei Menschenkategorien als „Risikogruppen“ und lenkte einen Sturm der öffentlichen Mißbilligung und des Hasses auf sie.

Schon die Zugehörigkeit zu einer der drei Gruppen konnte bisher in unserem Lande administrativ oder strafrechtlich verfolgt werden. Unter dem rächenden Damoklesschwert der Justiz haben Prostituierte, Homosexuelle und Drogensüchtige in Angst vor allem und jedem gelebt und wurden nur heimlich aktiv – oft unter unhygienischen Bedingungen – in vollgespuckten Einfahrten, auf Dachböden und in öffentlichen Toiletten. An welche Schutzmaßnahmen ist da noch zu denken?

In diesen Tagen wurden diese Gesetze, die unter anderem gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten, als Verstoß gegen die elementaren Bürerrechte abgeschafft. Weiterhin kriminalisiert wird die Prostitution. Daß jegliche Promiskuität, ungeachtet der sexuellen Neigungen der Beteiligten, riskant ist, solange nicht Schutzmaßnahmen ergriffen werden – diese Erkenntnis hat sich bei uns bisher nicht durchgesetzt. Von „Safer Sex“ als allgemeines Bildungsgut der Schulen sind wir noch weit entfernt, und inzwischen weist unsere imaginäre Aids-Opfer-Gedenktafel schon über 80 Namen auf. Jewgenija Debrjanskaja

(Übersetzung: Barbara Kerneck)

Die Autorin ist Vorsitzende der Moskauer „Unabhängigen Organisation der Lesben und GAIs“