Der Rumpelstilzchenparagraph

■ Interview mit der Strafrechtlerin Monika Frommel, Professorin an der Universität Kiel, zu den Auswirkungen des Karlsruher Urteils in der Praxis

taz: Frau Frommel, die Empörung über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum § 218 schlägt große Wellen. Und gleichzeitig zeigten sich in Karlsruhe sowohl die Damen von SPD und FDP, aber auch anwesende Ärzte erfreut. Denn sie pochten darauf, das Beratungskonzept sei angenommen, der § 218 sei aus dem Strafrecht raus. Aber das stimmt doch gar nicht. Was ist mit Frauen, die ohne eine Beratung abtreiben? Ist eine strafrechtliche Verfolgung von Frauen wie in Memmingen nach diesem Urteil tatsächlich – wie behauptet wird – nicht mehr möglich?

Monika Frommel: Natürlich gibt es Memmingen auch nach dieser Neuregelung. Nur die Peinlichkeit von Memmingen bleibt den Strafgerichten erspart. Das heißt, Frauen, die sich nicht haben beraten lassen und Ärzte, die, ohne daß ein Beratungsschein vorliegt, Abbrüche vornehmen, können auch künftig einen Prozeß bekommen. Ich denke aber, in Zukunft wird ganz still und leise in Strafbefehlsverfahren abgestraft, wenn gegen die Beratungspflicht verstoßen wird.

Wie in Memmingen können aber auch weiterhin Karteikarten aus Arztpraxen beschlagnahmt werden, um zu sehen, ob ein Beratungsschein vorlag.

Die Öffentlichkeit geht mittlerweile davon aus, die Kassenfinanzierung sei gestorben. Gleichzeitig gibt es Stimmen, die andeuten, daß parallel zum nichtfinanzierten Abbruch weiterhin die soziale Notlagenindikation bestehen bleibt. Diese wird dann, wie bisher im westdeutschen Indikationsmodell, von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt?

Ich gehe davon aus, daß die Krankenkassenfinanzierung nicht gekippt ist. Es gibt keinen Grund, die Krankenkassen künftig vollständig zu entlasten.

Auch der Verfassungsrichter Böckenförde, der die Mehrheitsentscheidung in Karlsruhe trägt, legt das in seinem Sondervotum nahe. Aus diesem Sondervotum ergibt sich: nicht rechtmäßig, und damit nicht unter die Rechtsversicherungsordnung fällt nur die Gesamtsumme aller Schwangerschaftsabbrüche.

Für die Teilmenge der Frauen, die nach einer medizinischen, eugenischen oder kriminologischen Indikation abbrechen, aber auch für diejenigen, die die soziale Notlagenindikation in Anspruch nehmen, gilt: es bleibt, wie es war.

Gibt es also künftig, wie der Jurist Erhard Denninger meint, den Schwangerschaftsabbruch erster, zweiter und dritter Klasse?

Ich würde sagen, es gibt ein Zweiklassenmodell. Weibliche Würde kann sich die Frau leisten, die den Abbruch selbst bezahlt. Selbstzahlerinnen zahlen dafür, daß sie in Würde, ohne intensive Konfliktberatung abbrechen können. Und ich als Endvierzigerin mit erwachsenem Sohn spende künftig also pro Jahr eine Abtreibung, damit eine Frau neben mir in Würde abtreiben kann. Wir spenden für die Würde unserer noch gebärfähigen Schwestern.

Und parallel zur Selbstfinanzierung bleibt es bei der Möglichkeit der sozialen Indikation?

Es bleibt bei der Notlagenindikation in der günstigen Variante, daß nicht mehr Strafgerichte darüber befinden müßten, sondern Sozialgerichte. Die Krankenkasse wird künftig überprüfen, ob die Notlage gegeben ist und wird zahlen, wenn dem so ist. Sie wird die Zahlung verweigern, wenn nach ihrer Ansicht die soziale Notlage nicht gegeben ist.

Das neue Gesetz schreibt also vor, was bayerische Krankenkassen schon versucht haben: Es verpflichtet Krankenkassen zur Überprüfung der Notlage?

Ja, das wird geltendes Recht sein. Wenn Krankenkassen sich weigern zu zahlen, wird es zum Rechtsstreit vor einem Sozialgericht kommen. Was früher im Strafrecht verankert war, wird jetzt also im sozialgerichtlichen Rahmen abgehandelt. Und das ist einfach besser als früher.

Letztlich bleibt den Frauen aber dennoch die Indikationsregelung in leicht modifizierter Form erhalten.

Genau. Letztlich kann man polemisch sagen: Die Notlagenindikation ist tot, es lebe die Notlagenindikation. Rumpelstilzchen kommt wieder, diesmal vor dem Sozialgericht.

Die Neuregelung des § 218 ist rechtlich gesehen also ein einziges Paradox.

Natürlich. Letztlich haben wir jetzt den „Rumpelstilzchenparagraphen“ – die versammelte Richterschaft, das patriarchale Rumpelstilzchen mußte noch einmal aufstampfen. Wer nicht mehr die Macht im Rücken hat, versucht sich eben irgendwie im ungeordneten oder geordneten Rückzug aus der Affäre zu ziehen. Und ich kann darüber nur lachen. Hören wir auf, uns zu empören, lachen wir über dieses Urteil.