Paragraph-218-Urteil diskriminiert Behinderte

■ betr.: Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.93

betr.: Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.93

[...] Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 28.5.93 zum Paragraphen 218 gibt es in der Bundesrepublik weiterhin zwei Arten von Leben. Zum einen das schützenswerte Leben, das nur bei Erfüllung besonderer Auflagen durch die betroffenen Frauen und „beratenden“ Stellen abgetrieben werden darf und zum anderen das behinderte Leben, das lebensunwert ist und somit keines besonderen Schutzes bedarf – also ohne weiteres abgetrieben werden darf. Mit diesem Urteil wird den in der Bundesrepublik lebenden Menschen mit Behinderung ein weiteres Mal vor Augen geführt, daß sie weniger wert sind als sogenannte nichtbehinderte Menschen. Es wird ihnen klargemacht, daß sie in dieser in erster Linie an ökonomischen Wertkategorien orientierten Leistungsgesellschaft Ballast sind.

Ein weiteres Mal wird deutlich, daß es vielen an der Diskussion zum Paragraphen 218 Beteiligten nicht um den „Schutz des ungeborenen Lebens“ und die Selbstbestimmung von Frauen, sondern um bevölkerungspolitische Zusammenhänge geht. Gerade in einer Zeit, in der ein permanenter Rückgang der Geburtenzahlen zu verzeichnen ist und die Angst vor einer Überalterung der Gesellschaft grassiert, macht das Urteil klar, daß gesunde, arbeitsfähige Menschen und damit zukünftige RentenzahlerInnen gebraucht werden.

Wie sehr es hier um ökonomische und bevölkerungspolitische Zusammenhänge geht, beweist auch die Tatsache, daß die Krankenkassen in Zukunft soziale Indikationen nicht mehr bezahlen, wohl aber für eugenische Indikationen ohne weiteres aufkommen. Mit derartigen Bestimmungen wird keineswegs ungeborenes Leben geschützt, sondern der Versuch unternommen, soziale Folgekosten zu verringern.

Wenn es hier tatsächlich um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, warum hat das Bundesverfassungsgericht dann nur bezüglich der sozialen Situation die Verbesserung für Frauen mit Kind angemahnt und ist nicht gleichzeitig auf die Situation von Frauen mit behinderten Kindern bzw. auf die soziale Situation von behinderten Kindern eingegangen? Es wäre durchaus möglich gewesen, eine verbesserte Unterstützung von Frauen mit behinderten Kindern zu verlangen.

Zudem paßt der gegenwärtige Umgang mit dem Thema „eugenische Indikation“ in eine Zeit, in der die passive und aktive Euthanasie wieder verstärkt diskutiert wird und Menschen mit Behinderung auf offener Straße psychisch und physisch mißhandelt werden.

[...] Der Paragraph 218 stellt – und das wird sich voraussichtlich auch nach einer nochmaligen Veränderung durch den Bundestag nicht ändern – dadurch, daß er einen Schwangerschaftsabbruch ohne größeren Aufwand möglich macht, wenn erwartet wird, daß das Kind behindert sein wird, für Menschen mit Behinderung eine Diskriminierung dar. [...] Karsten Exner, Hannover

Die hohen Herren und Dame des BVerfG in Karlsruhe fällten ein Urteil in vermeintlicher Abwägung der konkurrierenden Rechte von Mutter und (werdendem) Kind. Das Ergebnis ist jedoch genauso abwegig wie verlogen. Verlogen, weil hier der Begriff des „lebenswerten“ menschlichen Lebens genauso wie in der bisherigen Indikationslösung fortgeschrieben wird. Demnach darf nach wie vor ein behindertes Kind (z.B. mit Trisomie 21, „mongoloid“) bedenkenlos bis zur 22. Schwangerschaftswoche(!) abgetrieben werden, wozu der Frau bei der sogenannten „humangenetischen“ Beratung sogar geraten wird. Dies zeigt, daß hier nicht zwischen Rechten von Frau und Kind, sondern einzig zwischen angeblicher Zumutbarkeit für die Frau und die Gesellschaft abgewägt wurde.

Einer Frau ist es offenbar zumutbar, ein (ungewolltes) Kind auszutragen; der Gesellschaft (oder den Krankenkassen) soll jedoch die Zumutung eines eventuell „behinderten“ Kindes (finanziell) erspart bleiben. Hallo Euthanasie, wir glaubten dich vergessen!

Dies ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht aller Frauen, sondern auch aller Betroffenen von einer gesellschaftlich (oder auch nur finanziell) definierten „Behinderung“. Die menschliche Schlußfolgerung kann nur sein: Freie Entscheidung für die Frauen!!! Denn nur den betroffenen Frauen ist eine verantwortungsbewußte Entscheidung zuzutrauen. Herwig Sünnemann, Hamburg