: Wenn aus „Bengeln“ Mörder werden
■ Die Rufe nach Verfolgung und Verboten werden lauter
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in Bonn, Hans Stercken (CDU), möchte, daß Skinheads und andere rechtsextremistische Gruppen in diesem Staat keinen Platz haben. Wenn aus der Bundesrepublik kein „Nachtwächterstaat“ werden solle, dann müßten diese Gruppen verboten werden. Stercken, der auch Bundesvorsitzender der deutsch-türkischen Gesellschaft „Hür Türk“ ist, stellte sich damit letzte Woche in die Reihe derer, die nach Mölln und Solingen eine konsequentere Strafverfolgung anmahnen und schärfere Gesetze fordern. Mancher Politiker in Bonn klagt ein, der Staat müsse gegen Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit nun die gleichen Anstrengungen unternehmen wie seinerzeit in den 70er Jahren gegen den Terror der „Roten Armee Fraktion“. Ein untauglicher Vergleich, der ebenso wie der Ruf nach Organisationsverboten, nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden, im Kern an der Sache vorbeigeht.
Das Phänomen, das die Verfolgungsbehörden nur schwer in den Griff bekommen, ist, daß „sich unschuldige Bengels von heute auf morgen in Mörder verwandeln“. Weil die Anschläge überwiegend von Jugendlichen und Heranwachsenden auf dem Spielplatz bei einem Kasten Bier verabredet werden, hat die Polizei bei Attacken auf Ausländer- und Flüchtlingsheime im Vorfeld schlechte Karten. Dieser Bereich, so der Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Rüdiger Holocek, entziehe sich der polizeilichen Beobachtung, weil die Polizei in Schulen und Elternhäusern nicht präsent, oft auch gar nicht erwünscht ist. Bei den Brandstiftern, urteilt ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Brandenburg, handele es sich „um sehr junge Leute, die einer neonazistischen Organisation nicht unmittelbar angehören, sondern einem schwer überschaubaren Feld jugendlicher Cliquen mit rechten Orientierungen“. Rein repressive Maßnahmen, so der Beamte, könnten in dieser sich entwickelnden „rechten Subkultur“, die zwar nicht durchgängig gewalttätig aber für Militanz doch sehr anfällig ist, nur die Spitze des Eisberges treffen. In der Gesellschaft, ahnt der Verfassungsschützer, „müßte sich erst einmal die Erkenntnis durchsetzen, das hier ein Problem entstanden ist, das nur mit einer gemeinsamen Anstrengung aller demokratischen Kräfte bewältigt werden kann“.
78 Prozent der Straftäter in Sachsen sind jünger als 21 Jahre. Beinahe jeder Dritte, der im Freistaat Sachsen als Tatverdächtigter von der Sonderkommission „Rex“ erfaßt wurde, ist sogar Jugendlicher zwischen 14 und 18 Jahren. Nur jeder fünfte Täter war erwachsen. Bei den 1.200 Vernehmungen, die von der Sonderkommission des Landeskriminalamtes in Dresden durchgeführt wurden, ergab sich, daß allein in 45 Fällen fremdenfeindliche Straftaten ihren Ausgangspunkt spontan in einer Diskothek nahmen. Die Auswertung zeigte weiter, daß die Straftaten überwiegend am Wohnort verübt werden. 1.100 der Vernommenen wohnte entweder am Tatort oder stammte aus einem Umkreis von 20 Kilometern. Die große Gefahr, erklärt der Leiter des Landeskriminalamtes, Peter Raisch, liege darin, daß sich Jugendliche treffen, „beim Alkohol ihr Feindbild diskutieren, sich gegenseitig aufschaukeln, um dann unmittelbar zur Tat zu schreiten“. Im Stundentakt entwickelten sich so terroristische Vereinigungen. Eine dahinter liegende straffe Struktur neonazistischer oder rechtsextremistischer Gruppen konnte nach seinen Worten in keinem der Fälle in Sachsen festgestellt worden. Wolfgang Gast
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