: ITO HIROMI
Foto: Mario Ambrosius
„Wenn ich es jetzt bedenke“, schreibt Ito Hiromi in ihrer Erzählung „Mutter töten“, „war ich wie eines dieser gewalttätigen, schwer erziehbaren Kinder.“ In ihren Gedichten spricht ein Mädchen oder eine junge Frau, die aus ihrer alltäglichen Welt berichtet – Streit mit der Mutter, Kampf mit dem Kind oder dem Mann – und trotzig, scheinbar unerschrocken den Leser erschrecken will. Die Distanz zwischen dem Geschriebenen und ihr mutet gering an. Sexualität beschäftigt sie. Krankheiten spürt sie nach. Metamorphosen faszinieren sie, Grenzübergänge wie Geburt oder Tod. In dem Gedicht „Kanako töten“, das wegen seiner Länge hier leider nicht abgedruckt werden kann, bekennt sich Ito Hiromi zu einer früheren Abtreibung und beschwört die widerstreitenden Gefühle bei der Geburt ihrer Tochter gleichen Namens. Am Schluß des Gedichts ruft sie ihre Freundinnen auf, sich ihrer Kinder zu entledigen: „Alle zusammen setzen wir sie aus / die Töchter / die Söhne / die die Zähne wetzen, um uns die Brustwarzen zu zerbeißen.“
Ihre Vitalität und Radikalität haben der 1955 in Tokyo geborenen und heute in Kumamoto auf der japanischen Südinsel Kyushu lebenden Lyrikerin einen vielbeachteten Eintritt in die japanische Literaturszene und den Ruf einer Schamanin verschafft. Mögen ihre ersten Gedichte noch betont kunstlos gewesen sein und, wie Lisette Gebhardt meint, an Art brut erinnern, so hat sich ihr Stil seit ihrem ersten, 1978 erschienenen Gedichtband „Der Pflanzenhimmel“ stets verfeinert. Heute schreibt sie mit musikalischer Präzision und großer Ökonomie der Mittel. Sowohl archaische Wucht wie bittere Ironie haben in diesen eindringlichen Gedichten Platz. „Von Frauen, Männern und Kindern, von der Zweispältigkeit der Gefühle ist [...] die Rede“, schreibt ihre Übersetzerin, die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit, „aber auch von Obsessionen, deren Komik, etwa in ,Harakiri‘, ausgerechnet durch das übertrieben Ästhetische wie auch durch Klang und Rhythmus hervorgehoben wird.“ Nicht von ungefähr erwähnt Ito Hiromi in diesem Gedicht Mishima Yukio. Er hat als erster in Japan die literarische Selbstentblößung praktiziert, eine literarische Gattung, die sie mit schonungsloser Offenheit weiterführt. Joachim Sartorius
Bibliographischer Kurzhinweis:
In japanischer Sprache liegen unter anderen „Der Pflanzenhimmel“, Gedichte 1978, „Über Territorien 1 und 2“, Gedichte 1985 und 1987, „Bäuchlein, Bäckchen und Popo“, Essays 1987, und „Familienkunst“, Essays 1992, vor.
Der Residenz Verlag, Salzburg, wird in der Reihe Liber: Libertas im September 1993 einen Band mit ausgewählten Gedichten und Prosatexten unter dem Titel „Mutter töten“ veröffentlichen, herausgegeben und übersetzt von Irmela Hijiya-Kirschnereit.
Die Gedichte auf dieser Seite sind deutsche Erstveröffentlichungen und von Irmela Hijiya-Kirschnereit aus dem Japanischen übertragen.
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