■ Das Kabinett und die dicke Studie zum „Sozialmißbrauch“
: Auf der Suche nach dem Gemeinwohl

Mißbrauch, das Wort schon macht uns mißtrauisch. Verdächtigen wir Theo Waigel etwa zu Unrecht, wenn wir vermuten, daß er wieder einmal den Schwächeren in der Gesellschaft an den Kragen will? Der Nachweis fällt meistens nicht schwer und wird von den Zuständigen in den Gewerkschaften, in der SPD und bei den Grünen stets verläßlich erbracht. Schieflage, soziale Kälte, Entsolidarisierung, das Vokabular trifft meist ins Schwarze, wenn es um die Sozialpolitik der Bundesregierung geht. Doch was ist damit gewonnen, wenn Waigel, Lambsdorff, Kohl einmal mehr nach diesem Muster entlarvt werden? Wenig. Denn das Problem, das ist dann immer noch da.

Warum, zum Beispiel, kann sich so manche Belegschaft für den billigen Öko-Nahverkehrstarif nicht recht erwärmen? Weil er niemals so kostengünstig sein kann wie die schöne Gewohnheit, in Fahrgemeinschaften zur Arbeit zu fahren, bei der Steuererklärung aber ganz individuell mit den Fahrkosten umzugehen. Warum eigentlich finden alle in meiner Umgebung es etwas absonderlich, wenn ich für die Berechnung der Kindergartenkosten für meinen nichtehelichen Sohn freiwillig beide Elterneinkommen angebe? Der Staat, er will doch betrogen sein, und oft genug geht das auch ganz legal.

Der Solidargedanke, das Verständnis vom Sozialen, hat sich in der Bundesrepublik gefährlich weit von seinen Ursprüngen entfernt. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher „der Staat“ in Anspruch genommen wird, erinnert nur noch blaß an die traditionelle Arbeitersolidarität, die christliche Soziallehre oder Erhards Idee von der sozialen Marktwirtschaft. Die sozialen Sicherungssysteme beruhen auf Gegenseitigkeit, auf einer Wechselbeziehung zwischen den einzelnen, zwischen Staat und Gesellschaft. Wir denken an bestimmte Begriffe, wenn wir Entsolidarisierungsprozesse beklagen: Leistungsdenken, Ellenbogenmentalität, Konkurrenz. Aber auch, wer Hilfe nimmt, ohne sie zu brauchen, entsolidarisiert.

Wer wollte ernsthaft bestreiten, daß das in der Bundesrepublik zur allgemeinen Gewohnheit geworden ist? Gilt nicht auch unter denen, die in die Zukunft denken und sich deshalb nicht erlauben, zu verschwenden, was nicht ihnen allein gehört, das Motto: Bloß dem Staat nichts schenken! Im Umgang mit den natürlichen Ressourcen hat sich durchgesetzt, daß jeder bei sich selbst anzufangen hat. Mit unseren sozialen Ressourcen sollten wir nicht anders verfahren.

Allenthalben wird über die schlimmen sozialen Folgen der deutschen Einheit geklagt. Die Wiedervereinigung hat neben anderen aber auch folgenden Vorzug: Sie stößt uns mit der Nase darauf, daß wir uns ändern müssen und beschleunigt diesen Prozeß. Tissy Bruns