: Positive Signale für Positive
Das faszinierendste Thema auf dem Berliner Aids-Kongreß waren die Langzeitüberlebenden. Sie machen Millionen Infizierten neue Hoffnung. Die Entwicklung der Impfstoffe macht indes Fortschritte. Aber werden sie rechtzeitig kommen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen? Bei der Therapie setzt man auf den Parallel-Einsatz mehrerer Medikamente.
„Das erste Dia bitte!“ Auf der Projektionsfläche im Berliner Kongreßzentrum erscheint ein einziger Satz: „Was macht dieser Kerl da vorne auf dem Podium?“ Mit diesem Jokus pflegt Aldyn McKean, Aids-Aktivist von Act Up New York, seine Vorträge zu beginnen. So war es in Amsterdam 92, so ist es in Berlin 93. Aber noch vor einem Jahr redete er in einem kleinen Nebenraum, heute spricht er im größten Saal. Dann beantwortet McKean die selbstgestellte Frage: Er sitze hier vorne auf dem Podium, weil er ein Langzeitüberlebender sei, einer jener Menschen, die es offenbar geschafft haben, mit dem Aids-Virus HIV fertig zu werden. Seit fünf Jahren, sagt McKean, versuche er das Phänomen der Langzeitüberlebenden bekannt zu machen, „fünf Jahre lang habe ich es hinausgeschrien“. Jetzt, so scheint es, wird seine Botschaft erhört. In Berlin sind die Langzeitüberlebenden erstmals zu einem Schwerpunkt der Welt- Aids-Konferenz geworden, mit vier Sitzungen zum Thema, das Interesse ist überwältigend.
McKean hat sich vermutlich 1978 angesteckt, 1980 hatte er die ersten Symptome einer Immunschwäche, ein Jahr später riet ihm sein Arzt, seine Dinge im Leben in Ordnung zu bringen. Das tat McKean: Er wechselte den Arzt. Heute, nach 15 Jahren Infektion, wirkt er gesund und munter, obwohl die Zahl seiner CD4-Helferzellen weiter unter 200 liegt (als „gesund“ gelten 1.000 bis 1.200 CD4-Zellen). Seit Amsterdam hat er sogar ein paar Pfund zugelegt.
„Untersucht die Gesunden!“ heißt die neue Parole der Aids-Aktivisten. Die Forscher sollen sich schleunigst um die Langzeitüberlebenden kümmern: Was ist typisch bei ihnen, was ist anders? „Wenn wir mehr von ihnen wissen, dann können wir Aids besser verstehen und die richtige Therapie finden“, hofft McKean. Wie hoch das Potential der Langzeitüberlebenden ist, macht die San-Francisco-Kohorte deutlich, ein Kollektiv von Homosexuellen, das ursprünglich für eine Hepatitis-B-Studie ausgewählt worden war. Anhand der gesammelten alten Blutproben konnte man im nachhinein den Zeitpunkt der HIV-Infektion feststellen und die weitere Entwicklung beobachten. Ergebnis: Nach fünf Jahren waren 12 Prozent der Infizierten an Aids erkrankt, nach zehn Jahren waren es 51 Prozent. Heute, nach 13,8 Jahren Beobachtung, haben 68 Prozent das Vollbild der Immunschwäche entwickelt. Andersherum: 32 Prozent, also jeder dritte Infizierte, „hat Aids nicht gekriegt“, so die Epidemiologin Nancy Hessol. Und einige werden es vermutlich niemals kriegen. Aber warum?
Weniger aggressive Virusstämme, eine gute ärztliche Versorgung, eine gute Diät, viel Schlaf, regelmäßiger Sex, wenig Streß, ein intaktes soziales Netzwerk, eine starke Persönlichkeit, Marihuana- Rauchen. Es gibt viele Faktoren, die in der Kongreß-Diskussionsrunde genannt wurden. Das Bild ist auf den ersten Blick verwirrend. Manche Langzeitüberlebende haben nie ein einziges antivirales Medikament genommen, andere schlucken seit Jahren AZT. Manche haben stabil 800 Helferzellen, andere fast keine mehr. Blutproben der Überlebenden werden inzwischen wie ein Schatz unter den Forschern weitergereicht. US- Aids-Experte Jay Levy stellte darin fest, daß die CD8-Zellen, die zweitwichtigste Untergruppe der T-Zellen, eine Schlüsselrolle spielen. Sie könnten das Virus unter Kontrolle halten.
Levy und andere Forscher fordern „Mammutstudien“, um das Phänomen aufzuklären. Aber schon jetzt ist die wichtigste Botschaft angekommen: Es gibt wieder Hoffnung! „Niemand soll sich umbringen, wenn er positiv ist, denn man kann 10, 15 oder 20 Jahre mit der Infektion leben und vielleicht noch länger“, sagte ein Diskussionsteilnehmer.
Sönke Müller von der Deutschen Aids-Hilfe sieht im Schlepptau der Diskussion um Langzeitüberlebende deutliche Psycho-Effekte in der infizierten Community: Um mehr zu erfahren, „rennen die uns die Türen ein“. Bisher habe jeder Infizierte täglich darauf gewartet, endlich krank zu werden, jetzt steht die Gesundheitsförderung wieder stärker im Mittelpunkt. Für Müller hat die Welt- Aids-Konferenz endlich wieder positive Signale gesetzt.
Hoffnung vermitteln indessen auch andere Schwerpunkte der Konferenz: Therapie und Impfung. In der Medikamenten-Forschung hat die vereinbarte Kooperation von 15 großen Pharmafirmen (darunter auch AZT-Hersteller Wellcome, Glaxo, Abott, Boehringer, LaRoche) für neuen Optimismus gesorgt. Vereint soll zum Generalangriff auf das Virus geblasen werden. Ähnlich wie bei der Tuberkulose-Therapie will man den Erreger mit mehreren Medikamenten gleichzeitig angehen. Neben AZT, DDI und DDC stehen mit 3TC, L661, D4T und anderen Neuentwicklungen in absehbarer Zeit mehrere antivirale Substanzen zur Verfügung, die in unterschiedlichen Stadien des Vermehrungszyklus' auf das Virus wirken. Gegen mehrere Arzneien könne selbst ein so variables Virus wie HIV nicht gleichzeitig resistent werden. Wichtigste Vorraussetzung für den neuen Therapieansatz: Die eingesetzten Medikamente müssen aufeinander abgestimmt und sie müssen vor allem verträglich sein.
In der Impfstoffentwicklung (s. taz v. gestern) „haben wir Ergebnisse erzielt, die wir bisher für unerreichbar hielten“. Dieses Fazit von Daniel Bolognesi, Koordinator für Aids-Impfstoffe in der US- Gesundheitsbehörde, beschreibt die zuversichtliche Stimmung unter den Forschern. Der Grund dafür ist eine neue Generation von Impfstoff-Prototypen, die der äußeren Virushülle von HIV sehr viel besser „nachgebaut“ wurde und die zum Teil in Kombination getestet wird. Ergebnis: Eine sehr gute Verträglichkeit, eine stark verbesserte und eine ausreichend lang anhaltende Immunantwort. Bolognesi ist überzeugt, „daß wir die Kurve kriegen“.
Die guten Nachrichten muß man suchen, die schlechten sind überall. Die dramatische Ausbreitung von HIV in Asien und Lateinamerika ist ungebrochen und droht langfristig die afrikanische Entwicklung einzuholen. Immer gravierender wird das Problem der Tuberkulose-Erkrankungen bei Aids. In vielen Regionen ist die TB bereits die häufigste sekundäre Infektion, und es bilden sich zunehmend arzneiresistente Stämme. Heftig diskutiert wurde in Berlin auch die Übertragbarkeit von HIV durch das Stillen. Bei infizierten Müttern liegt das Risiko, daß die Infektion auf das Kind übertragen wird, in Europa bei 15 Prozent. Durch das Stillen verdoppelt sich die Quote auf 30 Prozent.
Andere schlechte Nachrichten liegen unbeachtet auf dem großen Haufen der Kongreß-Infos: Das Panos-Institut teilt mit, daß die katholischen Bischöfe Kenias durchgesetzt haben, daß die Sexualerziehung an den Schulen (mit entsprechender Aids-Aufklärung) wieder abgesetzt werden muß. Es scheint unvermeidbar, daß sich bis zur nächsten Welt-Aids-Konferenz in Yokohama 1994 wieder eine Million Menschen mit HIV infizieren wird. Manfred Kriener, Berlin
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