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Selbst der Döner-Spieß stand eine Stunde still

■ Aus Protest gegen Solinger Morde blieben gestern mehrere tausend türkische Geschäfte und Restaurants geschlossen

Punkt zwölf rasselte das Gitter an der Eingangstür der türkischen Pamik-Bank hinunter. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig überdeckte der bärtige Verkäufer seine Tomaten mit einer Plastikfolie. Ein paar Meter weiter spannten die Angestellten des Textilladens „Stoffwechsel“ ein langes schwarzes Tuch von Ladentür zu Ladentür an den Hauswänden entlang. Egal welcher Nationalität die Inhaber waren – in der Kreuzberger Oranien- und Adalbertstraße gab es gestern mittag kaum ein Geschäft, Imbiß oder Restaurant, in dem gearbeitet wurde: „Unser Betrieb“ verkündeten schwarzumrandete Trauerplakate in türkisch und deutsch an den Schaufenstern, „bleibt heute für eine Stunde geschlossen. Damit wollen wir der Toten rassistischer Gewalt in Mölln, Solingen und anderen Orten gedenken und unseren Protest zum Ausdruck bringen.“

Zu der Protestaktion hatte der Bund der Einwanderer aus der Türkei in Berlin (BETB) und der türkische Hotel- und Gaststättenverband (THG) aufgerufen. In der Stadt gibt es etwa 5.000 türkische Geschäfte mit insgesamt etwa 14.000 Beschäftigten. An der einstündigen Arbeitsniederlegung beteiligten sich vor allem Läden in Kreuzberg und Neukölln, die THG sprach gegenüber einer Presseagentur von rund 2.500, in der Mehrzahl türkische Unternehmen. Auf der Kreuzung der gesperrten Oranien- und Adalbertstraße war ein Rednerpult aufgebaut, von dem sich der Sprecher des BETB, Ertekin Özcan und danach Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) an die rund 300 Versammelten wandten. Mit einer Beteiligung von 28 Milliarden Mark am bundesweit erwirtschafteten Bruttosozialprodukt, so Özcan, hätten die „vormaligen Gastarbeiter“ längst den Beweis dafür erbracht, daß sie zu einem festen Bestandteil der hiesigen Gesellschaft geworden seien. „Um so skandalöser“ sei es, daß diesen Menschen in Deutschland immer noch die staatsbürgerlichen Rechte verweigert würden.

Wirtschaftssenator Meisner hob mit einem „liebe Berlinerinnen und Berliner“ an. Er habe diese Anrede ganz bewußt gewählt, denn: „Wer in dieser Stadt lebt, aufwächst, lernt und arbeitet, der ist kein Ausländer.“ Ausdrücklich bedankte sich der Wirtschaftssenator bei den türkischen Arbeitern und Unternehmern „für Ihre Leistungen im Wirtschaftsleben Berlins“. – „Sie sind tüchtige Steuerzahler, und mit Ihren Sozialabgaben sichern Sie die Renten in Deutschland.“ Die türkische Bevölkerung habe Kreuzberg „vor dem Verrotten bewahrt“ und Berlin zu einer lebendigen europäischen Metropole gemacht. „Bitte resignieren Sie nicht. Gehen Sie nicht weg aus Deutschland. Sie gehören hierher. Wir brauchen Sie“, appellierte Meisner, und: „Bitte lassen Sie sich bei aller Wut und Empörung nicht zu Gegengewalt hinreißen.“ Er versprach, sich persönlich für eine Berliner Initiative des Senats für eine „erleichterte Einbürgerung und die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft einzusetzen. Darüber solle der Senat „noch im Juni beraten“.

Seine Ansprache wurde von den Buhrufen einiger deutscher Kreuzberger übertönt, die selbstkritische Worte zur verfehlten Integrationspolitik des Senats vermißten. Ein kleines Grüppchen eine Mao- Fahne schwenkender TKP/MLer brüllte monoton: „Nie wieder Deutschland“. Am Oranienplatz im Supermarkt Penny war der Verkauf die ganze Zeit unbemerkt weitergegangen. Sie hätte zu gern mitgemacht, bedauerte die Filialleiterin, aber die Zentrale habe es verboten. Zwischen zwölf und ein Uhr hätten fast soviele Menschen wie immer eingekauft, und dies seien „zu 80 Prozent Türken“. Auch durch die halb heruntergezogene Tür der Kneipe „Kogge“ bekamen die davorsitzenden Alkis weiter ihr Bier. „In 60 Minuten verdurstest du sonst doch“, entrüstete sich der Wirt und wurde prompt Lügen gestraft: „Ich habe die eine Stunde lang aus Solidarität kein Glas angerührt“, lallte ein auf dem Bordstein sitzender Grauhaariger ganz stolz. Plutonia Plarre

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