: Der Zerfall der zivilen Gesellschaft
Jugend und Gewalt – ein Rekurs auf die Kritische Theorie ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Mit der jüngsten Terrorwelle gerät die bundesdeutsche Medienlandschaft in ein Dilemma. Nichts, was es bei der phänomenologischen Beschreibung und Einschätzung des neonazistischen Netzwerkes, bei der Mitverantwortung von Teilen der politischen Eliten am Alltagsrassismus in Deutschland und der Herkunft der rechten Täter aus der Mitte der Gesellschaft noch groß hinzuzufügen gäbe. Die aktuellen Analysen, Interviews und Kommentare unterscheiden sich nur in Nuancen von dem, was bereits nach den Ausschreitungen und Pogromen 1991 und 1992 zu lesen und zu hören war.
Wenn Die Zeit ihr jüngstes Dossier dem Thema „Türken in Deutschland: Erst seit ihre Häuser brennen, nehmen wir sie wahr“ widmet, ist dies Anzeichen von Hilflosigkeit und symptomatisch für ein publizistisches Feld, das gemäß den Marktgesetzen „Neues“ liefern muß, selbst wenn es nichts mehr zu sagen hat. In einer Zeit allgemeiner Geschwätzigkeit läßt deshalb ein Buch aufhorchen, dessen Autoren den Mut aufbringen, eine Pause zu reklamieren, „in der über das Phänomen Jugend und Gewalt „nachgedacht“ werden kann“.
In „Jugend und Gewalt. Der neue Generationskonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft“ verzichten der Wiesbadener Gefängnispsychologe Götz Eisenberg und der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer auf Statistiken, neueste Umfrageergebnisse und deskriptive Milieustudien. Mit Hilfe der Kritischen Theorie rekonstruieren sie zunächst auf hohem Abstraktionsniveau den Prozeß der Industrialisierung der Moral, arbeiten die Sozialisationsbedingungen der letzten zwanzig Jahre heraus, die für die Autoren durch den universellen Warencharakter geprägt sind und zwangsläufig Beschädigungen bei der Persönlichkeitsbildung nach sich ziehen und einen neuen, „verwilderten“ Sozialisationstypus hervorbringen.
Kein Lamento über den Werteverlust
Eisenberg und Gronemeyer geraten damit unversehens in eine aktuelle Debatte. Für FAZ-Leitartikler, aber auch Claus Leggewie bis hin zur Grünen-Abgeordneten Beate Scheffler ist es en vogue, über den Werte- und Autoritätsverlust zu lamentieren. Die bei den (Neo-)Konservativen beliebte Behauptung, die 68er-Bewegung sei verantwortlich für den Rechtsextremismus, da sie den Funktionsverlust der Familie verursacht habe, verweisen die Autoren in das Reich der Phantasie. „Daß viele Familien sich in eine Szenerie von Kälte und Feindseligkeit verwandelt haben, daß Gleichgültigkeit, Beziehungslosigkeit und Leere ihr Binnenklima bestimmen, ist doch nicht das Resultat der 68er-Kritik am Autoritarismus der Kleinfamilie, sondern dokumentiert den Umstand, daß Tauschbeziehungen in sie eingedrungen sind.“
Eisenberg/Gronemeyer gehen der Frage nach, wohin die moralischen Bestände entschwunden sind und warum. Dabei verorten sie die Quelle der rechten Jugendbewegung in Deutschland ebenfalls in der Familie, aber nicht als Resultat der 68er-Verantwortungslosigkeit, sondern als Quintessenz der Durchkapitalisierung innerfamiliärer Beziehungen, die den Prozeß der Enkulturation der Heranwachsenden nachhaltig stört: zwar sei die materielle Versorgung gewährleistet, aber die sinnlich-emotionale Ernährung ist nachhaltig gestört. Mit der gesellschaftlich bedingten Auflösung der Familie büße diese ihre Vermittlerfunktion zwischen Gesellschaft und Subjekt ein und verliere an prägender Kraft. Die Vaterfigur in ihrer Normen und Werte vermittelnden Funktion ist entwertet, hat diese an andere gesellschaftliche Institutionen abgegeben, die diese natürlich nicht adäquat übernehmen können.
Industrialisierung der familiären Beziehungen
In einer Entwicklungsgeschichte der Aggression weisen die Autoren überzeugend nach, wie in der Kleinfamilie permanent Aggressionen erzeugt, deren Artikulation allerdings unterbunden werden. „Es werden kaum Formen der Sublimierung und Ritualisierung der Aggression entwickelt und eingeübt, so daß sie nicht mitsozalisiert wird und in einem archaischen und rohen Aggregatzustand verbleibt.“ Der Effekt: Die Aggression der Heranwachsenden kann sich nicht vermenschlichen. Folglich besteht bei einer Generation, ausgestattet mit chronischer Unsicherheit des Selbstwertgefühls, die stetige Gefahr, daß sie von großer, archaischer Wut überrumpelt wird. Eine Entlastung dieser Wut bieten Gruppen, die die Außenwelt in gut und böse unterteilen und damit Außenfeinde bieten. Heute sind das neonazistische Gruppen, die die neurotischen Ängste aufgreifen, verstärken und den „Patienten“ in einer gewissen Unmündigkeit lassen.
Die Perspektive, die Eisenberg/ Gronemeyer aufzeigen, ist düster. Da die klassischen Sozalisationsinstanzen – Familie, Schule und Beruf –, die ehedem mehr oder weniger erfolgreich Aggressionen gebändigt haben, ihre sinnstiftende Bedeutung verloren haben, wird ein „postmoralischer, aggressionsbereiter und unterhaltungsbedürftiger Single“ produziert, der „sich an keine Spielregeln der Zivilisation mehr zu halten genötigt fühlt“. In Zukunft kann dieser Sozialisationstypus durchaus auf die ideologische Begründung seiner Gewalt verzichten – übrig bleibt dann die ungerichtete Aggression.
Roß und Reiter = Kapitalismuskritik
An das Verantwortungsbewußtsein der Eltern zu appellieren, macht für die Autoren wenig Sinn. „Nicht die Familie hat die Gesellschaft im Stich gelassen, sondern die Gesellschaft hat die Familie ihren Funktionsimperativen geopfert.“ Und weil das so ist, so der Vorschlag Eisenbergs und Gronemeyers, muß bei der Benennung von Roß und Reiter wieder von Kapitalismus und Profitinteressen gesprochen werden und über die faulen Konsequenzen, wenn Tauschbeziehungen sämtliche gemeinschaftliche Lebensformen aufzehren. Auch wenn das bei geläuterten Ex-Linken als unfein gelten mag, haben die Autoren Spuren gelegt, handwerkliches Rüstzeug benannt, mit dem die theoretische Auseinandersetzung künftig geführt werden muß.
Götz Eisenberg, Reimer Gronemeyer: Jugend und Gewalt. Der neue Generationskonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg, 224 Seiten, DM 12,90
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