■ Menschenrechte – ein Produkt des Eurozentrismus?: Zum Beispiel China
„Die Menschlichkeit“, schreibt der französische Aufklärungsphilosoph Paul Thiry d' Holbach, „ist ein Knoten, um den Bürger von Paris mit dem Bürger von Peking zu verbinden.“ Dem europäischen 18. Jahrhundert erschien es als selbstverständlich, als „self- evident“, daß die Menschenrechte universell gelten sollten, und gerade China war ihnen ein Reich sittlicher Autonomie, wo die Menschen nicht kraft einer äußeren Autorität, sondern nur ihrer „Natur“, der sanften, inneren Stimme der Vernunft folgend, sich moralisch verhielten. Zweifellos war diese Ansicht der Aufklärer naiv. Sie enthielt aber ein tieferes Verständnis der chinesischen ethischen Tradition als die Urteile der folgenden zwei Jahrhunderte, die den chinesischen Moralvorstellungen bescheinigten, sie hätten sich nie von der Fessel der Institutionen und einer als unabänderlich gedachten Natur lösen können.
Interessanter und bezeichnenderweise stimmen die Urteile mancher postmoderner westlicher Philosophen und der heutigen Machthaber Chinas in dem einen, wesentlichen Punkt überein: der Universalismus der Menschenrechte bricht sich am besonderen chinesischen Kontext. Und von beiden so unterschiedlichen Ausgangspunkten aus wird eine chinesische Kultur des Fleißes, der Anpassung, des Gehorsams und des Kollektivismus gepriesen, der gegenüber eine systematisch-kritische Haltung, ein Beharren auf den individuellen Menschenrechten als „künstlich“, als westlicher Import disqualifiziert wird.
Demgegenüber erweisen neue Studien zur chinesischen Geistesgeschichte das universalistische Potential der antiken chinesischen Morallehren und ihre Verwandtschaft mit den uns vertrauten Vorstellungen von Menschenwürde, Autonomie, Mündigkeit und Gleichheit – mithin ihrer Modernität. Vergleichende Studien würden zutage fördern, daß in allen Weltkulturen sich ein ähnliches, oft vom herrschenden Diskurs überdecktes Potential findet. Wir erhielten das auf der Hand liegende Ergebnis, daß zu keiner Zeit und in keiner Weltgegend die Menschen sich gern den Mund verbieten, grundlos ins Gefängnis werfen, foltern oder massakrieren ließen. Das gehört, wie der marokkanische Dichter Abdellatif Laabi kurz und treffend sagte, zur „condition humaine“.
Westliche, kritische Intellektuelle sollten sich deshalb nicht allzusehr von dem Argument beeindruckt zeigen, die Menschenrechtsforderungen spiegelten nur eurozentrische Anmaßung. Hinter solchen Thesen steckt gewöhnlich ein verkürztes, diesmal wirklich eurozentrisches Bild außereuropäischer Kulturen. Wer bringt zudem diese Argumente vor? Die Gefangenen oder die Gefängniswärter? Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen