piwik no script img

Sprechen ist Sünde

Hermann Peter Piwitt findet nach Jahren des stummen Einheits-Ekels zur Sprache zurück  ■ Von Jörg Plath

Der säkularisierte bundesdeutsche Joghurtesser kennt die exotische Frucht als Maracuja. Für den Titel seines neuen Romans aber hat Hermann Peter Piwitt ihren zweiten Namen gewählt: „Die Passionsfrucht“. Piwitt bezieht sich ausdrücklich auf die christliche Bedeutung: spanische Missionare, berichtet er, hätten beim Blick in den weißen Blütenkelch die „Marterwerkzeuge Christi“ erkannt, „Dornenkrone, Lanze und Essigschwamm“. Ist Piwitt, Sozialist und ehemaliges Mitglied der DKP, zum rechten Glauben konvertiert?

Tatsächlich enthält „Die Passionsfrucht“ nicht nur christliche Symbole und Verweise. Piwitts Protagonist leidet an der Hybris, mit der sich der Mensch zum Herrscher über die Dinge aufwirft. Die Flucht aus dieser Gegenwart führt in die Gärten des Leibes und der Natur – die alten Bilder des Paradieses. Nur der Herr fehlt in Hermann Peter Piwitts Endspiel, das ohne eine durchgehende Handlung aus locker aufeinander folgenden Szenen entsteht.

Seine Hauptfigur, der deutsche Maler und Kunstprofessor Mahler, spaziert gleich zu Beginn durch den Park des ästhetizistischen Dichters und Duce-Konkurrenten Gabriele d'Annunzio am Gardasee. Mit heidnischer Kraft hat der „Commandante“ alles zum Symbol der eigenen Macht geweiht, es benannt.

Nun spricht jeder Stein und jeder Baum von ihm. Hierin gleicht sein Garten dem göttlichen, dem Paradies. Mahler läßt diese Hybris schaudern, zugleich aber ist er fasziniert. Auch er will die Dinge sprechen lassen, doch sollen sie offenbar werden jenseits der Bedeutungen, die die Menschen ihnen mit kolonialer Machtgeste verliehen haben.

Um den wahren Namen der Dinge zu erfahren, muß sich das Subjekt aufgeben. Die Malerin Carla lehrt den doppelt so alten Mahler in einer Amour fou die Hingabe. Ihr Credo ist die hedonistische Apotheose des Augenblickes, seiner Valeurs, der Intensitäten, des Dufts. Immer wieder verschmelzen beide in „Nummern von unergründlicher Besonnenheit“. Moral, Sitte, Vernunft gibt Mahler auf, während Carla nach „kleinen Ministranten“ ruft und die Eucharistie ihren Fortgang nimmt: „Dies ist mein Leib. Nehmet hin und esset. Aufgetan der ganze duftende Garten ...“

Der Leib als göttlicher Garten stillt Mahlers Leiden an der Gegenwart. Wie die Ästhetizisten findet er im Selbstverlust die Unschuld wieder. Später, als sich die Trennung von Carla andeutet, kehrt Mahler dann in die Asyle der Natur und der sinnlichen Wahrnehmungen ein: „So sich verlieren in das Gesumm der Stimmen von unten rauf: Das Bremsenseufzen der Linienbusse in den Engen des kleinen Zentrums. Das kleine Krakeelen, wer immer da gerade gescheucht wird: ein Hund, ein Kind. Nur noch hinzugemischt sein diesem flüchtigem Bestand, aufgelöst für einen Augenblick in den Schlaf der Welt.“

Unterbrochen wird Mahlers Sehnsucht nach Einkehr in den „Schlaf der Welt“ von Erzählsträngen, die in die Vergangenheit der Stadt am Gardasee führen, wo Mahler und Carla die erotische Kommunion begehen: der Widerstand italienischer Partisanen gegen den Duce und die Deutschen, eine Kindheit im Faschismus und die letzten Lebensjahre des ästhetizistischen Dichters Gabriele d'Annunzio sind ihre Themen. In diesen Erzählsträngen, die direkt, manchmal naiv erzählt werden, gibt es keinen Zweifel am Tun des Menschen. Italienische Lebensgeschichte im Faschismus und im Widerstand, ohne Selbstzweifel und voller Lebenswillen, kontrastiert mit der Gegenwart des leidenden und zaudernden Deutschen Mahler.

Motiviert sind die Erzählungen aus dem Italien vor 1945 von der deutschen Vereinigung. Unvermittelt spielen Schlußszenen der „Passionsfrucht“ in der jüngsten Vergangenheit: Schabowski verkündet beiläufig im Fernsehen, die Mauer sei offen, und inmitten der feiernden Menge trauert ein älterer Mann um eine Tote – eine reale Person? Eine Allegorie für verlorene Hoffnungen? Er verflucht die Umstehenden und wünscht sie ins Grab.

Piwitt hat in einem Konkret-Interview gesagt, er habe nach dem Roman „Granatapfel“ (1986) keinen weiteren schreiben können, weil die Ereignisse der letzten Jahre ihm vor Ekel die Sprache verschlagen hätten. Die Krise, als die Piwitt den Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus und die deutsche Vereinigung erlebt, spiegelt sich in den theologischen Motiven seines neuen Romans. Sie erlauben es, die denkbar schärfste Kritik an der Gegenwart nicht unmittelbar, sondern als Sprachkritik zu äußern: denn die wahre Sprache, die mythische Einheit zwischen Natur und Mensch, ging mit der Vertreibung aus dem Paradies verloren.

Wie also noch erzählen und von was? Am liebsten hätte Piwitt in der Sprache eines Tieres berichtet „von der glücklich überstandenen Seuche“, die die Menschen hinwegraffte. Weil der fromme Wunsch bislang unerfüllt ist, bleibt ihm nur, so zu „tun, als seien Menschen noch der Rede wert. Ihren Resten eine nette kleine Ruine bereiten“. Zwischen Künstler- und Zeitroman changiert diese „Ruine eines Romans“, spielt mit Versatzstücken und Zitaten, mit musikalischen Motiven und mehreren Erzählern, die natürlich behaupten, keine zu sein (wenngleich sie alle den gleichen verknappten Duktus besitzen). Doch selbst das Spiel mit der modernen Erzähltradition entkommt dem Zwang zum Benennen in der menschlichen Sprache nicht: „damit auch das seinen Namen weg hat“, heißt es einmal resigniert. Der Roman, wie aufgelöst auch immer, muß so ein steter Sündenfall sein.

Wer jeder, auch der ästhetischen Rede mit solch misanthropischem Ekel die Kraft abspricht, muß sich fragen lassen, warum er denn die ganze Mühe auf sich nimmt und ob sie das Ergebnis lohnt. So naiv wie Piwitt haben schon die Ästhetizisten um die Jahrhundertwende nicht mehr die Hingabe loben können, mit der sie der bürgerlichen Rationalität zu entkommen versuchten. Der gleiche Einwand gilt für das Bild der Natur als Paradies und das Hohelied auf Sinneswahrnehmungen, deren Wahrhaftigkeit im Zeitalter von Tschernobyl und medialer Wirklichkeit doch wohl kein verläßlicher Orientierungspunkt mehr sein kann.

An diesen Antiquiertheiten reibt sich der beträchtliche erzählerische Aufwand, und beim Leser stellt sich bald der Eindruck mühevoller Beliebigkeit ein. Die erlösenden Worte können da allein vom Tod stammen. Er ist es, der auf der letzten Seite alle Erzählprobleme mit einem forschen „Halt's Maul, Name!“ beseitigt.

Hermann Peter Piwitt: „Die Passionsfrucht“. Rowohlt-Verlag 1993, 288 Seiten, geb., 39.80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen