: Zehntausende gegen Wirtschaftsreformen
■ Großdemonstration in Sofia für den Rücktritt der Regierung / Sturz von Präsidenten Shelju Sheljevs möglich
Budapest/Sofia (taz) – Die seit Monaten anhaltenden politischen Wirren in Bulgarien haben einen neuen Höhepunkt erreicht, nachdem am Montag abend zehntausende Menschen in der Hauptstadt Sofia für den Rücktritt von Staatspräsident Shelju Sheljev und seiner Regierung demonstrierten. Die unabhängige, zweitgrößte Tageszeitung des Landes, „24 Stunden“, sprach gar von 100.000 Demonstranten, die neben einer Verbesserung des Lebensstandards und einer sozialen Abfederung der Wirtschaftsreformen auch Neuwahlen forderten. Angeschlossen hat sich den Protesten auch die bulgarische Vizepräsidentin Blaga Dimitrova. In einer Fernsehansprache forderte sie baldige Neuwahlen. Präsident Shelev lehnte derweil weiterhin seinen Rücktritt ab.
Der radikale Flügel der antikommunistischen Parteienkoalition „Union der Demokratischen Kräfte“ (SDS), die im bulgarischen Parlament nach der „Sozialistischen Partei“ (BSP) die zweistärkste Kraft ist, hatte die Demonstration organisiert. Die SDS wirft dem Staatspräsidenten, einem früheren Oppositionellen, vor, mit den ehemaligen Kommunisten zu kolaborieren. Schon Mitte vergangenen Jahres war es zwischen der SDS und dem Staatspräsidenten, der die „Union“ 1989 mitbegründet hatte, zum Bruch gekommen. Während die Partei den Präsidenten der Kolaboration bezichtigte, beklagte Sheljev eine zunehmende Politikunfähigkeit der SDS. Tatsächlich hatte die SDS-Regierung unter Ministerpräsident Filip Dimitrov, die im Oktober letzten Jahres gestürzt wurde, nicht nur kaum etwas zur Bewältigung der tiefen Wirtschaftskrise in Bulgarien unternommen, sondern sich auch in einen aufgepeitschten ideologische Wortkrieg mit der „Sozialistischen Partei“, den ehemaligen Kommunisten, verwickelt. Nach dem Sturz der Regierung Dimitrov trat die Bruchlinie zwischen radikalen Antikommunisten und gemäßigten Pragmatikern innerhalb der SDS immer deutlicher zutage. Die Politik der „Union“ aber veränderte sich nicht.
Die wirkungslose innerparteiliche Kritik an der rigiden antikommunistischen SDS-Parteiführung führte schließlich dazu, daß sich die gemäßigteren Kräfte in zwei unabhängigen Parlamentsfraktionen absetzten und so die SDS auf den zweiten Rang im Parlament verwiesen. Die beiden Fraktionen haben die amtierende Regierung unter Ljuben Berov dabei einer lockeren Unterstützung versichert, während die UDF den Regierungschef offen bekämpft.
Neu sind die Forderungen der SDS nach einem Rücktritt von Regierung und Staatspräsident keineswegs. Die Union erhofft sich davon, wieder zur stärksten politischen Kraft im Land zu werden. Zu den seit Monaten regelmäßig veranstalteten Protestkungebungen kamen jedoch jeweils nur einige tausend Menschen. Die große Zahl von Menschen, die sich diesmal in Sofia versammelten, ist vordergründig dem Hungerstreik eines SDS-Abgeordneten zu verdanken, der so der Rücktrittsforderung an den Staatspräsidenten Nachdruck verleihen will. Doch das Ausmaß der Demonstration spiegelt auch die überall verbreitete Unzufriedenheit mit der jetzigen Regierung wider. Sie hat seit Anfang des Jahres eine Reihe unpopulärer ökonomischer Reformen, vor allem Preiserhöhungen, durchgesetzt.
Die beiden anderen Parlamentsparteien, die exkommunistischen „Sozialisten“ und die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“, die die türkische Minderheit vertritt, hielten sich mit Kommentaren zu den Protesten einstweilen zurück.
Sie haben der Regierung in der Vergangenheit immer wieder angedroht, ihr die Unterstützung zu entziehen, falls zu weitgehende Reformen eingeleitet würden. Offenbar fürchten beide Gruppierungen, ihre Wählerklientele könnten sich von ihnen abwenden und sie mit für die katastrophale soziale Situation, die im Zuge der Reformen des maroden bulgarischen Staatssozialismus seit 1989 entstanden war, verantwortlich machen. Sollten sich die Proteste ausweiten, könnte die Regierung daher tatsächlich schnell stürzen. Keno Verseck
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