■ Einwanderung und Asyl in Europa: Das Ende der Königswege
Über drei Jahrzehnte enger deutsch-französischer Zusammenarbeit haben soziale und politische Konvergenzen auf allen Ebenen herbeigeführt. Die Entscheidungen des vergangenen Monats Mai in Sachen Einwanderung, Staatsangehörigkeit und Flüchtlingspolitik stellten dies unter Beweis: Die Schwelle für Immigranten wurde hochgesetzt, das Asylrecht durch restriktive Verfahren faktisch außer Kraft gesetzt, und in puncto Staatsangehörigkeit setzt sich eine Mischform aus ius sanguinis und ius soli als europäische Norm durch. So entsteht europäische Immigrationspolitik – auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Das „deutsche Modell“ der ethnisch homogenen Gemeinschaft ist damit ebenso passé wie das „französische Exempel“ der republikanischen Integration. Beide sind unter dem Druck der Konvergenz und der transnationalen Wanderungsströme zermalmt.
Schauen wir in die Geschichte beider Länder zurück: Während sich mit der Französischen Revolution, auf den Grundlagen einer fest etablierten Staats-Nation, das Muster einer politischen, also auf dem Bürgerstatus beruhenden Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft in Europa verbreitete, ging von der deutschen Romantik das Projekt einer vorpolitischen, kulturell oder „völkisch“ begründeten Identität aus, das sich seine staatliche Gestalt erst noch suchen mußte. Auf ein drittes Modell, die amerikanische Republik, bezogen, sind diese beiden Wege durch die Prinzipien von descent (Abstammung) und consent (Zustimmung) gekennzeichnet. Frankreich verfolgte ein voluntaristisches Projekt, Deutschland verstand sich als kulturelle Schicksals- und Volksgemeinschaft.
Die Fixierung auf vergangene Modelle trübt jedoch den illusionslosen Blick auf die Gegenwart. Diese ist eher dadurch gekennzeichnet, daß beide Gesellschaften gleichermaßen der Veränderung der Modalitäten der Immigration und der neu entstandenen Fluchtmotive zu wenig Rechnung tragen. Unter den Prämissen einer hochmobilen Weltgesellschaft funktioniert weder das „französische Modell“ noch der „deutsche Weg“ der Integration. Beide sind durchlöchert und zur puren Ideologie geworden, denn beide Gesellschaften verfolgen angesichts dieses Drucks eine protektionistische Linie – im Prinzip wenigstens. In Wirklichkeit aber müssen beide Länder sich doch auf massive Einwanderung – legal oder illegal – einstellen. Die Bundesrepublik hat sich wider alle Selbstdarstellung zum größten de-facto-Einwanderungsland Europas entwickelt, das im übrigen fast zwei Drittel aller Flüchtlinge aufnimmt.
Die französische Politik seit dem Regierungswechsel, die das liberale Staatsangehörigkeitsrecht mit seinen eingebauten Automatismen der Naturalisierung und politischen Gleichstellung stückweise revidiert und vollmundig verspricht, die Einwanderung „auf Null herunterzufahren“, erweckt in der Bundesrepublik natürlich große Aufmerksamkeit. Den Befürwortern des ius soli ist ein Modell abhanden gekommen, und die Anwälte einer offenen Einwanderungsgesetzgebung, die sich mittelfristig auf 200.000 bis 300.000 legale Einwanderer pro Jahr einstellt, haben es noch schwerer. Angesichts der gewaltigen parlamentarischen Mehrheit des restriktiven Kurses und der Stimmung der Mehrheit der französischen Bevölkerung ist kaum anzunehmen, daß die Politik von Charles Pasqua nicht in die Tat umgesetzt wird.
In Deutschland ist die Lage anders. Obwohl die parlamentarische Mehrheit, unter Einschluß vieler Sozialdemokraten, und ein großer Teil der Bevölkerung das neue französische Exempel begrüßt und als Maßstab eigennütziger Vernunft ansieht, ist durch die Mord- und Brandanschläge eine veränderte psychologische Lage eingetreten. Die Erleichterung der Einbürgerung, die bereits seit Beginn der achtziger Jahre feststellbar war und sich auch unter christdemokratischer Ägide fortsetzte, ist kaum noch aufzuhalten. Auch die Gewährung einer doppelten Staatsangehörigkeit – bisher das stärkste Tabu der deutschen Staatsrechtler und Innenpolitiker – liegt nunmehr im Bereich des Möglichen. Als symbolische Morgengabe an die Deutsch-Türken nach den Brandnächten gedacht, weil man zu ihrem Schutz nicht viel aufzubieten hat, bringt dieses Angebot die Möglichkeit, eine Liberalisierung jetzt zu verwirklichen.
Das ius soli kommt also auf leisen Sohlen durch die deutsche Hintertür. Es einzuführen, wird durch die Pogrome von Rostock, Mölln oder Solingen weder falscher noch richtiger. Aber die Idee ist jetzt politisch durchsetzbar, so zynisch dies angesichts von Toten und Schwerverletzten auch wirken muß. Deshalb sollte die bisher verpaßte Chance jetzt ergriffen werden, bevor Helmut Kohl seine vagen Versprechungen von Ankara zurücknehmen kann und die Betonköpfe in der Unionsfraktion wieder Oberwasser bekommen.
Dazu muß man noch einmal verdeutlichen, was eine liberale Einbürgerungspraxis bedeutet und bringt: Die Funktion der Einbürgerung besteht nicht darin, fremde Bürger physisch zu schützen oder unmittelbar vor Diskriminierung im Alltag zu bewahren, und ebensowenig wird sie hinfällig, wenn beides nicht geleistet wird, wie es eine neunmalkluge Argumentation von rechts und links weismachen will. Die selbstverständliche Gewährung der Bürgerschaft, das Prinzip der Inklusion, ist kein symbolischer Akt noch gar ein Element der „Stimmungsdemokratie“. Vielmehr hebt die Einbürgerung Einwanderer, bisher politisch weitgehend rechtlose und zweitklassige Objekte des Wohlfahrts- und Sicherheitsstaates, in den Rang gleichberechtigter Subjekte, die sich selbstbewußt politisch äußern und betätigen können. Dies ist in Frankreich von seiten der Beurs geschehen, und dies vollzieht sich jetzt bei den Deutsch-Türken, die sich nicht nur von den deutschen, sondern auch von türkischen Autoritäten emanzipieren.
Erst Einbürgerung macht aus einem Land mit wilder oder kontrollierter Zuwanderung ein regelrechtes Einwanderungsland. Sie macht nämlich eine Denkfigur zur Wirklichkeit: den deutschen Staatsbürger z.B. türkischer Abstammung und moslemischen Glaubens, genau wie es die französische Staatsbürgerin algerischer Herkunft und islamischer Zivilisation gibt. Diese Lektion müssen in Deutschland beide beteiligte Parteien noch lernen; denn in ihrem bornierten Ethnozentrismus stehen sich viele Türken und viele Deutsche in nichts nach. Bürgerschaft und Ethnizität müssen entkoppelt werden; zugleich kann ein ethnisch, kulturell oder religiös fundierter Multikulturalismus die sozial-moralischen Grundlagen von Bürgerschaft garantieren.
Da die Option für den deutschen Paß auch in Kreisen der Einwanderer (aus verständlichen Gefühlen und falschen Überlegungen heraus) abgelehnt wird, propagiert man nun die doppelte Staatsangehörigkeit. „Sauberer“ wäre gewiß die amerikanische Lösung, die Einwanderer nach einer Frist zu Amerikanern macht (und ihre Kinder von Geburt an), ohne sich auf „halbe Sachen“ einzulassen. Aber Mehrstaatlichkeit ist in Europa längst nicht mehr der Ausnahmefall.
Es bleibt als Generalprinzip in allen europäischen Ländern das ius sanguinis unangetastet (auch Großbritannien hat sich dem Abstammungsrecht weitgehend zugeneigt). Es kommt jetzt darauf an, im Sinne republikanischer Prinzipien und des inneren Friedens des europäischen Einwanderungskontinents eine möglichst große Dosis ius soli bzw. domicilii hinzuzufügen bzw. zu bewahren, um nicht länger politische Parias zu erzeugen.
Auf dieser Basis kann auch besser für soziale Integration und kulturelle Autonomie gekämpft werden. Gesetze und Initiativen gegen Haßverbrechen, Rassendiskriminierung und religiöse Verfolgung können so ebenfalls besser greifen. Schließlich eröffnet sich hier der Weg, aus der unverbindlichen Zugehörigkeit zur Europäischen Union eine zeitgemäße Form der supranationalen Unionsangehörigkeit zu machen.
Nicht nur eine deutsch-französische, eine europäische Konvergenz ergibt sich hier: Während Frankreich die Einbürgerungsautomatismen abbaut und von den fremden Bürgern eine bewußte Entscheidung für die Republik erwartet, gewährt Deutschland mehr automatische Ansprüche auf Einbürgerung. Eine solche Mischung wird wohl europäisches Maß werden und auch bleiben, solange das politische Gespenst des Nationalpopulismus umgeht und Einwanderung nicht aus demographischen Gründen eine absolute Notwendigkeit ist.
Heute kann man sich kaum ausmalen, daß man einmal, in gar nicht so langer Zeit, vielleicht sogar froh sein wird, wenn Einwanderer nach Europa kommen. Eine möglichst liberale Einbürgerungspraxis, die eine geregelte und institutionalisierte Einwanderungspolitik begleitet, ist wahrlich kein „Geschenk“ an die verfolgten Minderheiten, sondern ein Rettungsversuch der bedrohten Demokratie, die, anders als ihr klassisches Vorbild der antiken Polis, nicht gedeihen kann mit einer riesigen Schar von unpolitischen und politisch rechtlosen Metöken. Claus Leggewie
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