: Kohl: Mitbürger bleiben Ausländer
■ Regierungserklärung des Bundeskanzlers: Mehrstaatlichkeit soll vermieden werden
Bonn (taz/AP) – Gestern hat Kohl geredet, doch gesagt hat er nichts. Das seit dem Mordanschlag in Solingen erwartete Signal der Bundesregierung an die nichtdeutsche Bevölkerung der Republik blieb auch bei der gestrigen Regierungserklärung des Bundeskanzlers aus. Schlimmer noch, Kohl ging sogar hinter von ihm bereits früher gemachte Vorschläge zurück. So war gestern in der mit Spannung erwarteten Rede von der doppelten Staatsbürgerschaft, auch auf Probe, keine Rede mehr. „Mehrstaatlichkeit“, so Kohl, soll „im Prinzip vermieden werden“. Statt dessen legte Kohl die alte Platte von der erleichterten Einbürgerung auf. Er vertröstete die „lieben ausländischen Mitbürger“ auf eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die sein Innenminister in Arbeit habe und die dazu führen soll, daß zukünftig von der Einbürgerung mehr Gebrauch gemacht wird, als bisher. Der Grundkonflikt, Menschen in eine für sie nicht akzeptable Alternative zu drängen, bleibt.
Um der absehbaren Enttäuschung unter den türkischen Immigranten vorzubeugen, formulierte Kohl statt dessen Nettigkeiten an die Adresse Ankaras. Die deutsch-türkische Freundschaft etwa sei ein hohes Gut, welches nicht gefährdet werden dürfe. Eine Jahrhunderte währende Partnerschaft könne nicht von Kriminellen gefährdet werden. Partnerschaft erfordert Verständnis. Die Vorwürfe der Menschrechtsverletzungen gegenüber der türkischen Regierung, „strotzten vor Selbstgerechtigkeit“.
Ansonsten erging Kohl sich im Verlesen von Statistiken, um nochmals seine bereits mehrfach erhobene Behauptung, Deutschland sei ein „ausländerfreundliches Land“, zu untermauern. Die Weltöffentlichkeit, so der Einheitskanzler, muß endlich zur Kenntnis nehmen, daß sein land in punkto Ausländerfreundlichkeit keinen Vergleich zu scheuen brauche.
Verantwortlich für die Mordbrennerei machte Kohl nicht den stärker werdenden Rassismus, sondern den erziehungsbedingten Verlust einer ethischen Grundhaltung, die als deutsche Sekundärtugend verspottet worden sei. Er forderte eine Rückkehr zu der Rücksichtnahme, Dankbarkeit, Höflichkeit und Anstand und Würde gehören müßten. „Wenn wir hier nicht umdenken, ist auf Dauer der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht.“
Kohl machte „viele der sogenannten Reformversuche im Bildungswesen“ für die zunehmende Gewaltbereitschaft mitverantwortlich. Wer zu Mündigkeit erziehen wolle, dürfe sittliche Ansprüche eben nicht herunterschrauben. Er wolle in nächster Zeit Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppen zu einem Gespräch über Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gewalt einladen. Es komme im wesentlichen auf vorbeugendes Handeln an.
In seiner Entgegnung auf Kohl recycelte der SPD-Interimschef Johannes Rau seine schon einmal erfolgreiche Idee vom „Versöhnen statt Spalten“. Die Gemeinsamkeit der Parteien als Bollwerk gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit. Er sagte, er teile die Sorge Kohls wegen der gestiegenen Gewaltbereitschaft. So verständlich aber der Ruf nach schnellen Antworten sei, so falsch wäre es, es sich zu leicht zu machen. Die jugendlichen Täter seien Kinder der Gesellschaft. Die Taten seien auch Ausdruck einer tiefgehenden Orientierungskrise.
Rau betonte, Fremdenangst sei nicht mit Fremdenfeindlichkeit gleichzusetzen. Man müsse dafür sorgen, daß aus Angst nicht Haß werde. Die Politik könne dabei einen bescheidenen, aber unersetzlichen Beitrag leisten. Es sei nötig, „genauer zu denken und dann sorgfältiger zu sprechen“. Die Sprache müsse ein Beitrag zum inneren Frieden werden.
Tagesthema Seite 3, Claus Leggewie Seite 10
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