: Kultur-Maskerade
■ betr.: "Der europäische Kulturgarten", taz vom 14.6.93
betr.: „Der europäische Kulturgarten“, taz vom 14.6.93
Erzerens Vergleiche abend- und morgenländischer Kultur helfen uns in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus in Deutschland leider überhaupt nicht weiter. Unbestritten, daß es eine wesentliche Aufgabe im Kampf gegen den Rassismus ist, dessen Ursachen in der jeweiligen (Un-)Kultur eines Volkes, einer Nation zu suchen. Das darf aber nicht darauf hinauslaufen, die Schuld, die einzelne Kulturen in Jahrhunderten auf sich geladen haben, in einer Art Erbsenzählerei gegeneinander aufzurechnen. (Fast) jede Kultur hat im Laufe ihrer Geschichte blutige und weniger blutige Phasen durchlaufen (allemal gilt dies für die europäischen Kulturen ebenso wie für die türkische). Für viele Kulturen war das oft genug mehr eine Frage waffentechnischer Unter- oder Überlegenheit, weniger ihrer tatsächlichen moralischen Integrität.
Die Forderung nach dem in Europa zum Gebet rufenden Muezzin erhält nicht dadurch mehr Gewicht, daß in Istanbul die Kirchenglocken läuten. Allzu groß wäre bei solcher Denkweise die Gefahr noch andere Vergleiche anzustellen (zum Beispiel über den Umgang mit Türken hier und Kurden dort). Der Muezzin muß in Europa zum Gebet rufen dürfen, weil die Moslems als zweitgrößte religiöse Gruppe einfach ein moralisches Recht darauf haben. Aus keinem anderen Grund.
Den aktuellen Rassismus zu bekämpfen, heißt in erster Linie der Menschenverachtung Menschlichkeit gegenüberzustellen und der Intoleranz gegenüber allem „Andersartigen“ Toleranz und Neugier gegenüber anderen Kulturen. Es heißt auch in der täglichen Auseinandersetzung mit offenen und verdeckten Rassisten diesen bekennend gegenüberzutreten. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob im Heimatland eines betroffenen Ausländers ein tolerantes Verhältnis gegenüber anderen Religionen besteht (oder eben nicht!).
Allein in eine Kultur hineingeboren zu sein, kann weder Schuld noch Ruhm für Einzelne bedeuten. Die stellen sich nur über das persönliche Handeln her. Es kann sich da niemand hinter seiner oder ihrer Kultur verstecken. Die Kultur, wie sie Erzeren darstellt, ist eine Maskerade, die von der persönlichen Verantwortung der Einzelnen ablenkt. Dietrich Lemme,
Frankfurt am Main
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