: „Wir haben die stärkste Armee im Kaukasus“
Mit dem Sturz des aserbaidschanischen Präsidenten Abulfaz Eltschibej ist der Kampf um Berg-Karabach vorläufig entschieden. Jetzt kommt die Diplomatie zum Zuge. Über das Land Karabach und die siegreichen Karabach-Armenier am Ende eines fünfjährigen Krieges: Eine Reportage ■ von Jürgen Gottschlich
Der Mann sieht aus als hätte er drei Tage nicht geschlafen. Die Ringe unter den Augen wie mit schwarzem Filzstift gezogen, die Gesten so sparsam wie im Halbschlaf. Dieser Habitus wird unterstrichen, wenn er spricht. Leise und nachdenklich. Die Liebe Bakor Sahakjans gehört der Vergangenheit, er ist Restaurator. Ein Kunsthandwerker, der sich mit der Wiederherstellung jahrhundertealter Sakralbauten beschäftigt, dem Symbol armenischer Kultur, den Kirchen. Zuletzt arbeitete er am Dom von Schuschi, einer der größten armenischen Kirchen in Berg Karabach, deren Kuppel einzustürzen drohte.
Die Kuppel des Doms ist zwar noch eingerüstet, doch seit fünf Jahren wagt kein Handwerker mehr den gefährlichen Aufstieg. Als im Frühjahr 1988 in Berg Karabach die ersten Schüsse fielen, waren Restauratoren nicht mehr gefragt. Deshalb trägt der Mann mit der leisen Stimme und den Ringen unter den Augen heute auch keinen Malerkittel mehr, sondern einen grün-schwarz gepunkteten Drillich der inoffiziellen Uniform der armenisch-karabachischen Streitkräfte. Bakor Sahakjan, 33 Jahre jung, ist Vize-Verteidigungsminister der „Unabhängigen Rebublik Berg-Karabach“, ein von niemandem anerkannter 4412 Quadratkilometer großer Zwergstaat auf dem Territorium Aserbaidschans mit mehrheitlich armenischer Bevölkerung.
Der derzeitige Arbeitsplatz Sahakjans ist der Generalstab Karabachs in der Hauptstadt Stepanakert. In dem erstaunlich lässig gesicherten militärischen Hauptquartier der Mini-Republik versucht Sahakjan fast beiläufig die „falsche Sicht des Auslands“ zurechtzurücken. „Alle Welt behauptet, hier fände ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan statt. Das ist falsch. Es ist ein Krieg zwischen Karabach und Aserbaidschan. Wir brauchen keine militärische Unterstützung aus Armenien. Wir sind selbst stark genug. Karabach hat die schlagkräftigste Armee im Kaukasus. Wir sind stärker als Armenien, Aserbaidschan oder Georgien. Wenn sie mir nicht glauben, können sie sich gerne an Ort und Stelle davon überzeugen, daß es in Karabach weder armenische noch sonst welche ausländischen Truppen gibt.“
Auge um Auge
Seit der Eroberung Kelbadschars im April legen die Karabacher größten Wert auf die Feststellung, daß sie bei diesem Vorstoß keinerlei militärische Unterstützung aus Armenien hatten. Schließlich soll Baku nicht die Chance erhalten, Armenien als Aggressor anklagen zu können.
Tatsächlich hält der Vizeverteidigungsminister sein Wort. Zwei Stunden später sitzen wir, – drei Deutsche und ein armenischer Journalist aus Jerewan – ausgestattet mit einem umfassenden Passierschein in einem russischen Jeep. Unser Ziel ist die Region Martakert, die letzte Ecke in Karabach, wo aserische Truppen noch einige Stellungen halten. Bis zum Herbst letzten Jahres war das gesamte vor uns liegende Territorium noch aserisch kontrolliert.
Die Fahrt durch Karabach ist auch eine Reise durch Orte des Grauens. Ungefähr 20 km von Stepanakert, der Hauptstadt Karabachs entfernt, liegt Hodschali, oder besser, lag Hodschali. Der Ort war nach Schuschi die größte aserische Siedlung in Karabach. Er wurde im Februar 1992 von armenischen Milizen erobert die dann ein Massaker an der Zivilbevölkerung veranstalteten und nach aserischen Angaben mehrere hundert Frauen, Kinder und Alte ermordeten. Der Ort ist völlig verlassen, die Häuser weitgehend zerstört – eine Geisterstadt. Unsere Begleiter stellen sich dumm. Massaker an der Zivilbevölkerung, Bilder von Leichenbergen erschlagener Zivilisten? Nein, davon wissen sie nichts. Hier, in Hodschali, habe es einen harten aber ganz normalen Kampf gegeben. Eingeständnisse eigener Schuld sind in Bürgerkriegen dieser Art nur ganz selten zu haben. Erst unser nachdenklicher Kirchenrestaurator und Vize-Verteidigungsminister Bakor Sahakjan gibt später zu, daß das Massaker keine reine aserbaidschanische Propaganda ist. Zu dem Zeitpunkt habe noch keine reguläre Selbstverteidigungsarmee mit einheitlichem Kommando und zentraler Kontrolle existiert. Einzelne Miliztruppen hätten in eigener Verantwortung agiert. Der Haß sei noch nicht durch die Disziplin einer regulären Truppe gezügelt worden.
Tatsächlich war die Einnahme von Hodschali eine schiere Überlebensfrage für die armenischen Unabhängigkeitskämpfer. Damals gab es den Korridor nach Armenien noch nicht und von Hodschali aus konnten die Aseris den Flugplatz von Stepanakert beschießen, die einzige Nachschubroute für die eingeschlossene armenische Hauptstadt Karabachs. Mit der Einnahme Hodschalis sprengten die Armenier auch den Ring um Stepanakert und konnten ihrerseits zum Angriff auf Schuschi vorgehen. Schuschi war die entscheidende Bastion der aserbaidschanischen Truppen in Karabach. Nach 70 Jahren aserbaidschanischer Verwaltung war die vormals armenische Stadt 1988 zu 80 Prozent von Aseris besiedelt und gleichzeitig Stützpunkt der größten Garnison. Schuschi liegt auf einer Berghöhe oberhalb von Stepanakert. Strategisch so günstig, daß von hier aus die armenische Stadt durch die aserische Artillerie systematisch zusammengeschossen werden konnte. Ähnlich wie die Serben um Sarajevo hielten die aserischen Truppen alle Höhen um Stepanakert besetzt.
Ethnische Vertreibung
Voller Stolz präsentierten uns die armenischen Karabacher deshalb die eroberte Stadt Schuschi. Noch heute, ein Jahr nach der entscheidenden Schlacht, säumen zerschossene, ausgeglühte Panzer die Serpentinenstraße von Stepanakert nach Schuschi. Hier ist um jede Kurve erbittert gekämpft worden, jeder Straßenzug im Ort war zeitweilig die Frontlinie. Daß der Dom, an dem Bakor Sahakjan vor dem Krieg die Kuppel restaurieren wollte, eine Baustelle geblieben ist, fällt in der Silhouette der Stadt nicht mehr auf. Leergeschossene Fensterhöhlen, ausgebrannte Wohnblocks, verwüstete Moscheen und ein zertrümmerter Basar sind Zeugen eines fünfjährigen Krieges, aus dem der Dom fast unversehrt hervorgegangen ist. Von den rund 30.000 Aseris die vor dem Krieg in Schuschi lebten, ist niemand mehr da.
So wie die Aseris versuchten, die Armenier aus Karabach zu vertreiben, indem ihre Kultur unterdrückt und die Menschen diskriminiert wurden, ist es jetzt nicht mehr denkbar, daß aserische Zivilbevölkerung, Moslems, die von den Armeniern der Einfachheit halber gleich Türken genannt werden, nach der Eroberung einer Ortschaft durch armenische Truppen dort bleiben. „Die Moslems sind ein unzivilisiertes Volk“, ist noch das freundlichste, was man in Karabach über die Türken zu hören bekommt. Abgesehen von den Verletzungen des mittlerweile fünfjährigen Krieges ist in Karabach wie auch in Armenien die Erinnerung an den Genozid Bestandteil des Alltags. Solange die türkische Regierung sich nicht zu dem Eingeständnis durchringt, daß die Truppen des osmanischen Reiches 1915 einen Völkermord an den Armeniern mit mindestens einer Million Opfern begangen hatten, wird es zwischen beiden Staaten kein nachbarschaftliches Verhältnis geben, und ist ein friedliches Zusammenleben zwischen Aserbaidschanern und Armeniern in Karabach nicht denkbar.
Deshalb ist eine Fahrt durch die von den Armeniern zurückeroberten Gebiete Karabachs teilweise auch eine Fahrt durch ein verlassenes Land. Während armenische Flüchtlinge langsam wieder in ihre Dörfer zurückkehren, sind die aserischen, die der früheren Nachbarn, nun ausgestorben. Dabei durchqueren wir abseits der Orte ein Land scheinbar tiefsten Friedens. Sattgrüne Wiesen wechseln mit sanften, dichtbewaldeten Bergen. Die Felder sind manchmal schon wieder bestellt. Von der Piste aus, die durch heftige Regenfälle in den letzten Tagen völlig aufgeweicht und teilweise ganz weggebrochen ist, so daß auch der robuste russische Jeep nur mühsam vorankommt, sehen die Dörfer wie rot-gelbe Einsprengsel im grünen Meer aus. Erst wenn der Weg dicht an die Siedlungen heranführt, bemerkt man, daß die Dächer fehlen oder zurückgekehrte Flüchtlinge die Häuser erst einmal provisorisch zusammengeflickt haben.
Anschluß jetzt
Der Krieg begann vordergründig im Jahre 1988, die Ursachen reichen jedoch weit in die Geschichte zurück (siehe Seite 15). Die aktuelle Auseinandersetzung begann, als Armenier in Jerewan und Nagorny Karabach – wie es im russischen heißt – anfingen, Gorbatschows Perestroika und Glasnostpolitik beim Wort zu nehmen. Es formierten sich Massenbewegungen, die den Anschluß Berg Karabachs an Armenien forderten. Der jetzige armenische Präsident Levon Ter-Petrosjan gehörte zu den Gründern des Karabach- Komitees, um das sich die nationale Unabhängigkeitsbewegung Armeniens gruppierte.
In Karabach selbst wurden Unterschriften für Petitionen an Gorbatschow gesammelt. Doch Gorbatschow taktierte, wollte es sich auch mit Aserbaidschan nicht verderben und hoffte offenbar, das Problem aussitzen zu können. Im Rückblick einer seiner entscheidenden Fehler – nicht ohne Stolz kolportieren die Karabach-Armenier, in ihren Bergen hätte der Anfang vom Ende Gorbatschows und der UdSSR begonnen –, denn das Lavieren Moskaus führte geradewegs in den Krieg. Weit davon entfernt, sich durch die mangelnde Resonanz im Kreml entmutigen zu lassen, machte die Führung der Karabach-Armenier den entscheidenden Schritt und erklärte ihre Enklave, die keine gemeinsame Grenze mit Armenien hat, zur Unabhängigen Republik.
Die aserische Reaktion auf diese völkerrechtliche Provokation erfolgte in einer Stadt in der Nähe von Baku, in Sumgait. Aserischer Mob, angeblich aufgehetzt vom KGB, veranstaltete ein Pogrom an den in der Stadt lebenden Armeniern ohne von der Polizei oder den Truppen des sowjetischen Innenministeriums daran gehindert zu werden. Trupps von jeweils 10 bis 20 Aserbaidschanern zogen mit genauen Listen über die armenischen Wohnungen durch die Stadt und erschlugen jeden, den sie antrafen. Als einige Monate später in Baku erneut Armenier ermordert wurden, flüchteten diese aus Aserbaidschan in die Republik Armenien wo umgekehrt die meisten Aseris vertrieben wurden. Damit begann ein Krieg, der alle Zutaten eines kaum lösbaren Konflikts aufweist:
– Das Gebiet Nagorny-Karabach oder Berg-Karabach – der Name kommt aus der Turk-Sprache und heißt Schwarzer Garten –, oder Arzach, der historische armenische Name, ist ein äußerst fruchtbares Gebiet, das Aserbaidschan schon aus wirtschaftlichen Gründen den Armeniern auf keinen Fall überlassen will.
– Das von Armeniern besiedelte Land wurde, seit es 1921 vom damaligen Nationalitätenkommissar Stalin Aserbaidschan zugeschlagen wurde, systematisch von Aseris besiedelt. Sie verdrängten zum Teil die Armenier und machen nun dasselbe Heimatrecht geltend wie die Armenier auch.
– Erschwerend kommen die unterschiedlichen Religionen hinzu. Christentum und Islam lassen sich hervorragend für den Krieg instrumentalisieren.
– Nicht zuletzt der vom Osmanischen Reich 1915 an den Armeniern verübte Völkermord, dem über eine Million Armenier zum Opfer fielen und den die türkische Republik bis heute bestreitet, aktiviert ein solches Ausmaß an Angst und Haß auf die Türken, daß ein pragmatischer Kompromiß auf beiden Seiten ausgeschlossen scheint.
Armenische Siege
Auf halber Strecke zur Front in einem Ort Namens Drmbon haben die Armenier ihren Stab und das Lazarett eingerichtet. Dr. Arzach Bunatjan, der leitende Arzt, kommt aus Jerewan und gehört zu den Menschen, denen man ihre humanitäre Motivation spontan abnimmt. Er hat auch aserische Kriegsverletzte behandelt, und wer immer ihm auf den Operationstisch gelegt wird, kann sicher sein, daß er sein Bestes tun wird. Das Lazarett ist spartanisch eingerichtet, drei Räume, ein Operationszimmer. Ein uralter Generatorsorgt für Strom. Zum Glück sind Medikamente, auch Betäubungsmittel ausreichend vorhanden.
Für die meisten Verletzungen, so Dr.Bunatjan, sind Minen oder Gewehrschüssen verantwortlich. Zur Zeit ist das Lazarett fast leer, an der Front herrscht Ruhe. Auch in der Stabsstelle geht es vergleichsweise gelassen zu. Am Abend zuvor hatten die Armenier die ersten Nachrichten vom Putschversuch des aserbaidschanischen Generals Surat Gussejnow aufgefangen. Gussejnow ist hier kein unbekannter. Er leitete die Gegenoffensive der Aseris im Juni 92, die Antwort der Aserbaidschaner auf die Eroberung Schuschis im März und des Latschin-Korridors im Mai 92.
General Gussejnow war vom gerade gewählten neuen Präsidenten Aserbaidschans, dem Nationalisten und Literaten Eltschibej mit der Vertreibung der Armenier beauftragt worden und hatte in wenigen Wochen fast halb Karabach von Norden kommend wieder unter aserbaidschanische Kontrolle gebracht. Wie jetzt die Aseris, wurde die armenische Bevölkerung aus ihren Dörfern vertrieben und flüchtete nach Stepanakert und von dort weiter nach Armenien. Doch der Vormarsch Gussejnows blieb stecken, die Armenier nahmen ihm seine Gebietsgewinne Stück für Stück wieder ab und als dann auch noch der armenische Vorstoß auf Kelbadschar im April zum Desaster für die aserbaidschanischen Truppen geriet, wurde Gussejnow seines Kommandos enthoben.
„Gussejnow hat behauptet, zu wenig Unterstützung aus Baku bekommen zu haben. Doch das stimmt nicht.“ Der stellvertretende Chef des Stabes, Alik Gareljan will bei den Kämpfen um Kelbadschar ganz andere Gründe für die Niederlagen der Aseris ausgemacht haben. „Die Soldaten aus Aserbaidschan wollen nicht mehr kämpfen. Sie wissen nicht, wofür sie hier sterben sollen. Sie sind nicht motiviert.“ Und die Armenier? „Von unseren Soldaten hier kämpfen alle für ihre eigene Heimat. Sie kommen alle aus der unmittelbaren Umgebung.“
Das Geheimnis des Erfolgs
Ob das Geheimnis des armenischen Erfolgs tatsächlich nur in der besseren Motivation zu suchen ist, läßt sich bei einem kurzen Besuch vor Ort nicht wirklich beantworten. Hartnäckig dementieren alle Militärs jede weitergehende Unterstützung von außen, aber genauso hartnäckig halten sich gegenteilige Gerüchte. Zwar ist die Republik Armenien in Karabach nicht mit eigenen Truppen präsent, aber Freiwillige aus dem Mutterland kämpfen natürlich doch hier. Ob es tatsächlich nur eine Handvoll sind, wie die Karabacher behaupten, ist nicht nachzuprüfen.
Dasselbe gilt für die Unterstützung aus dem Exil. Journalisten, die wissen wollen, woher die armenischen Waffen stammen, bekommen immer dieselbe Antwort. Das alles sei im wesentlichen Beutegut von den Aserbaidschanis. Doch vor allem in den USA gibt es etliche sehr reiche Armenier, die den Kampf im Heimatland unterstützen. So sind die Karabacher mit modernen Funkgeräten ausgerüstet, die nicht so aussehen, als stammten sie aus sowjetischen Beständen. Angeblich sollen auch US-Ausbilder in Karabach arbeiten, Armenier, die als Soldaten in Vietnam gekämpft haben. Erst vor einer Woche fiel einer der populärsten armenischen Kommandeure, Monte Melkonian. Melkonian ist Kalifornier und kam 1991 nach Karabach. Die meisten haben das Töten jedoch in der ruhmreichen Roten Armee gelernt. Etliche auch die deutsche Sprache. Schon der Karabacher Verbindungsoffizier in Jerewan, gab sich als Verehrer Schwerins zu erkennen, wo er als Soldat eine schöne Zeit verbracht hatte. Auch im Lazaratt waren wir in Deutsch begrüßt worden. Zwei gelangweilte, bereits mit Wodka betäubte Milizionäre kamen angesichts dreier deutscher Journalisten über ihre Zeit in Neuruppin ins schwärmen.
Ready to go
Je näher wir am zweiten Tag der Front kommen, um so deutlicher sind die Spuren der Verwüstung. Die Straße führt in einem weiten Bogen um einen Stausee, der vor wenigen Tagen noch heftig umkämpft war. Ausgebrannte Truppentransporter und zerstörte Kettenfahrzeuge vermitteln einen Eindruck von der Menge an Material und dem Einsatz von Soldaten, mit dem die Aseris versucht haben, diesen entscheidenden Frontabschnitt zu halten. Über die Schlacht an diesem Stausee in Martakert gibt es einen russischen Fernsehfilm, der in Karabach, Armenien und Aserbaidschan für große Furore gesorgt hat. Der Film zeigt zum einen, wie aserbaidschanische Offiziere ihre Soldaten in den Kampf prügeln müssen, damit sie nicht gleich desertieren, und zum anderen, wie diese dann von überlegenen armenischen Truppen zusammengeschossen werden. Gnade kann in diesem Krieg niemand erwarten, und Gefangene werden kaum gemacht.
Die letzte Stellung der Armenier liegt rund 5 Kilometer von der Staumauer entfernt mitten im Wald. Kurz davor werden wir angehalten, und ein bärtiger Milizionär drängt sich in den Jeep. Im Wald verteilt stehen Panzerwagen und moderne Versionen der „Stalinorgel“. Im Hof eines einsam gelegenen, alten Bauernhauses ist die Feldküche untergebracht. Eine rauchende Gulasch-Kanone vermittelt Pfadfinderromantik. Auch die Gestalten wirken so verwegen, daß sie eher maskiert als uniformiert scheinen. Breit grinsend kommt uns ein Mann entgegen, von dem unser Begleiter sagt, er sei der Kommandant der Truppe. Ausgestattet mit Baseball-Kappe und hochgeschnürten weißen Turnschuhen empfängt uns ein 23jähriger Mann, der auf den ersten Blick besser in den Central- Park als an die Front in Martakert gehört. Und Ilja Bagrjan gibt sich auch siegesgewiß wie ein Baseballstar vor seinen Anhängern. Auf die Frage, wann sie die letzten Stellungen der Aseris einnehmen werden, zögert er keinen Moment: „We are ready to go. Wir warten nur noch auf den Befehl.“ Die ganze Truppe ist über die Abwechslung, die der Besuch bringt, hocherfreut. Bagrjan läßt im Schlafsaal des Bauernhauses einen Tisch und Stühle aufbauen und improvisiert eine Pressekonferenz. Dicht um ihren Kommandanten gedrängt, hört sich die Truppe einen Bericht über ihre Heldentaten an. Später erfahren wir, daß diese Gruppe maßgeblich an der Vernichtung der aserbaidschanischen Soldaten am Martakert-Staudamm beteiligt war.
Politische Lösungen
Unterdessen haben sich in Stepanakert die Meldungen über die Unruhen in Aserbaidschan präzisiert. Der Präsident der Unabhängigen Republik Karabach, Georgi Petrosjan, war gerade von Moskau zurückgekehrt und hatte offenbar weitere gute Nachrichten mitgebracht. Gerüchteweise war ihm im Kreml Sympathie für die Unabhängigkeit Karabachs signalisiert worden, und auch das Verhalten der russischen Garnison bei dem Putschversuch in Gjandža werteten die Armenier zu ihren Gunsten. Im Gespräch verbreitete der Berater des Präsidenten, Arkardi Rukasjan, deshalb einen selbstbewußten Optimismus. Die Bevölkerung Aserbaidschans, meint Rukasjan, will nicht länger für Karabach bluten. Was Aserbaidschan fehle, sei eine durchsetzungsfähige Regierung, die die Realitäten anerkenne und Verhandlungen mit der Führung von Karabach aufnehme. „Schritt für Schritt“, so Rukasjan, werde man dann einer Lösung näherkommen.
Wie die aussehen muß, ist für die Karabacher klar. Den Korridor über Kelbadschar „sind wir bereit zu diskutieren, wenn Aserbaidschan einen dauerhaften Waffenstillstand anbietet. Wenn die internationale Gemeinschaft die Sicherheit Karabachs garantiert, können wir unsere Waffen sofort niederlegen.“
Wenige Tage nach unserem Besuch in Stepanakert stimmte die Führung von Karabach auf starken armenischen Druck zähneknirschend einem Rückzug noch vor einem Waffenstillstand zu. Territoriale Kompromisse im Kernland von Karabach lehnt Rukasjan dagegen kategorisch ab. „Wir haben hier nichts zu verschenken.“ Statt dessen bietet die politische und militärische Führung von Karabach den Aseris an, auf eine Vereinigung mit dem armenischen Mutterland zu verzichten. „Wir hätten gerne einen Anschluß gehabt, aber wir sehen, wie kompliziert das ist. – Deshalb“, so Arkadi Rukasjan, „streben wir jetzt die völlige Unabhängigkeit der Republik Karabach an. Das ist unser Kompromiß.“
Bei der Rückfahrt nach Jerewan herrscht im Latschin-Korridor reger Verkehr. Statt Panzern rollen jetzt Planierraupen. Die Karabacher sind sich ihrer militärischen Erfolge bereits so sicher, daß sie mit Straßenbauarbeiten auf der Verbindungsroute zum Mutterland begonnen haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen