: Kranke Ökonomie ohne Ökologie
Alternativvorschlag der Grünen zum an Keynes orientierten „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ / Ökologisierung der Wirtschaft ■ Von Wolfgang Bayer
Vor drei Jahren attackierten die Grünen im Bundestag ein echtes Fossil aus dem Museum für angewandte Wirtschaftskunde: das immer noch gültige, nach der Rezeptur des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes zusammengesetzte „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“. 1967 war es von der Großen Koalition verabschiedet worden. Dieses Rahmengesetz der Wirtschaftspolitik verpflichtet den Staat, „stetiges Wachstum“ zu fördern. Ökologische Ziele kommen nicht vor – und das obwohl eine Zerstörung der Lebensgrundlagen letztlich auch die wirtschaftliche Basis gefährdet. Die Botschaft des Keynesianismus war, durch antizyklische, staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen Konjunktur und Beschäftigung zu verstetigen.
Im Zuge der deutschen Vereinigung erlebt der Keynesianismus eine Renaissance: Nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verhindern die staatlichen, überwiegend kreditfinanzierten Transfers aus dem Westen noch Schlimmeres. Das ostdeutsche Volkseinkommen ist doppelt so hoch wie das entsprechende Produktionsniveau – eine Art Notstands-Keynesianismus.
Weder nachfrageorientierte noch ökologische Wirtschaftskonzepte bestimmen gegenwärtig die Debatte. Orthodoxe Liberale beschwören angesichts der besonderen deutschen Krisenlage inbrünstig ihr Paradigma des immerwährenden gesamtwirtschaftlichen Wachstums, das sie durch forcierte Deregulierungen, produktivitätsorientierte Lohnzuwächse sowie reduzierte Sozialleistungen stimulieren wollen. Von riskanten Technologien wie der Atomkraft und der Gentechnik abgesehen aber können sie keine Wachstumsfelder benennen – und die ökologischen und sozialen Folgekosten des Wachstums zu reflektieren ist nicht ihre Sache.
Aber auch die Verfechter einer ökologisch orientierten Wirtschaftspolitik stehen auf dem Prüfstand. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus müssen in Deutschland zwei ehemals konträre Ökonomien miteinander verschmolzen werden. Der Einbruch der Industrie im Osten und die Rezession im Westen sind eine brisante Mischung. Wie soll im Westen von dem ökologischen Alptraum des stetigen Wachstums Abschied genommen werden und zugleich der hohe Transfer für den Neuaufbau und die soziale Absicherung Ostdeutschlands aufgebracht werden? Sind ökologische Alternativen, die auf (selektive) Schrumpfung hochentwickelter, „reifer“ Volkswirtschaften zielen, nun vollends deplaziert?
Die Rezession im Westen mit der stark ansteigenden Staatsverschuldung erschwert zweifellos die finanz- und verteilungspolitische Fundierung einer alternativen Wirtschaftspolitik. Sie schließt diese aber nicht aus, zumal es für große Teile der oberen Hälfte im Westen selbst dann noch Einkommens- und Vermögenszuwächse gibt, wenn das Sozialprodukt stagniert bzw. schrumpft. Dafür gibt es drei Indikatoren: erstens das rasant steigende Geldvermögen der privaten Haushalte, das im nächsten Jahr mit voraussichtlich 4.000 Milliarden DM doppelt so hoch wie die Staatsverschuldung sein wird und jährliche Erträge in der Größenordnung von mindestens 200 Milliarden DM abwirft. Zweitens ist auch das Geldvermögen der Unternehmen trotz der Rezession auf einem Höchststand. Und drittens wird es in diesem Jahrzehnt eine einzigartige Welle von Erbschaften mit einem geschätzten Vermögenstransfer von 2.000 Milliarden DM geben. Anstatt den Sozialstaat weiter zu demontieren, macht es finanziell und verteilungspolitisch Sinn, einen Teil (!) des Vermögens- und Einkommenszuwachses für öffentliche Aufgaben zu mobilisieren.
Die Ökologisierung der Wirtschaftspolitik darf unabhängig von dieser Ausgangslage nicht länger auf konjunkturelle Schönwetterperioden verschoben werden. Der von den Grünen 1990 in den Bundestag eingebrachte Gegenentwurf zum „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ – das „Gesetz für eine ökologisch-soziale Wirtschaft“ – beruht auf der Einsicht, daß Wirtschafts- und Umweltpolitik endlich systematisch miteinander verzahnt werden müssen. Der Vorschlag, den die Professoren Rudolf Hickel und Jan Priewe zusammen mit den Grünen im Bundestag erarbeiteten, beruht auf folgenden Überlegungen:
– Die traditionellen Ziele des Stabilitätsgesetzes (stetiges Wachstum, hoher Beschäftigungsstand, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) werden durch die nachstehenden Ziele eines „magischen Fünfecks“ ersetzt: Bewahrung oder Wiederherstellung der ökologischen Grundlagen des Wirtschaftens (ökologisches Gleichgewicht), Erwerbsarbeit für alle bei gleicher Teilhabe von Männern und Frauen, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung.
– Die Umweltverträglichkeit des Wirtschaftens muß eine zentrale Orientierung der Wirtschaftspolitik sein. Das Dogma „stetiges Wachstum“ wird deshalb aus dem Zielkatalog gestrichen. Wachstum und Wohlfahrt haben sich zunehmend entkoppelt. In der alten Bundesrepublik muß inzwischen schon ein Achtel des Sozialprodukts dafür ausgegeben werden, ökologische und soziale Folgeschäden des Wirtschaftens zu beheben oder zu vermeiden. Selektives Wachstum in umweltschonenden Bereichen ist ebenso erforderlich wie selektives Schrumpfen in umweltgefährdeten Sektoren. Letzteres muß beispielsweise in der Verpackungs-, Chemie-, Wasser- und Energiewirtschaft angestrebt werden. Einer Analyse des Öko-Institutes zufolge könnte allein in der verschwenderischen und ökologisch brisanten Energiewirtschaft der (alten) BRD 50 Prozent des Energieverbrauches eingespart werden – ohne daß sich die Qualität der Energieversorgung verschlechtern würde.
Das Ziel des gesamtwirtschaftlichen Wachstums aufzugeben bedeutet nicht, „Nullwachstum“ oder gar das Schrumpfen des Bruttosozialprodukts (BSP) zu propagieren. Beides darf zwar als ökologische Option nicht ausgeschlossen werden. Entscheidend ist, daß das BSP und seine Veränderungsrate als Resultat des Wirtschaftsablaufs und nicht als fetischhaft vorgegebenes Ziel betrachtet wird.
– Das Ziel „Ökologisches Wirtschaften“ darf nicht unverbindlich bleiben. Die Bundesregierung soll deshalb verpflichtet werden, ökologische Rahmenpläne vorzulegen. Diese sollen die Reduktion der wichtigsten Schadstoffemissionen und -immissionen, die Vermeidung umweltbelastender Abfälle sowie die rationelle Verwendung natürlicher Ressourcen zum Gegenstand haben.
– Wirtschafts- und Umweltpolitik werden in dem Entwurf der Grünen systematisch miteinander verknüpft: Die Bundesregierung hat einen Jahreswirtschafts- und -umweltbericht vorzulegen. Darin ist auch die Entwicklung der ökologischen Folgekosten des Wirtschaftens darzustellen. Der Wirtschafts- Sachverständigenrat wird verpflichtet, die gesamtwirtschaftliche und die ökologische Entwicklung zu begutachten.
An die Stelle der „konzertierten Aktion“ tritt eine neue Einrichtung: der „Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialausschuß“, dem neben Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden auch gesellschaftliche Gruppen wie Umwelt- und Verbraucherverbände, Gewerkschaften, Unternehmer- und Frauenorganisationen angehören. Der Ausschuß hat gegenüber der Regierung Beratungs-, Informations- und Initiativrechte. Als eine Art „runder Tisch“ konzipiert, sollen dort Interessengegensätze ausgetragen werden.
– In der Konjunkturpolitik wird von der kurzfristigen Globalsteuerung Abschied genommen. Die Konjunkturpolitik soll sich daran orientieren, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung mittelfristig zu verstetigen und zugleich die Ziele des ökologischen Umbaus zu beachten. Die Verstetigung der öffentlichen Ausgaben- und Einnahmenentwicklung soll unter anderem durch das Instrument einer Konjunkturausgleichsrücklage erreicht werden.
Die Diskussion über ein neues „Grundgesetz“ der Wirtschaftspolitik muß in Anbetracht der sozialen und ökologischen Probleme endlich beginnen. Davor zurückschrecken sollten auch diejenigen nicht, die eine berechtigte Skepsis gegenüber Steuerungsideen haben und sich an die Einsicht des Schriftstellers Oskar Maria Graf erinnern: „Zurechtgedachtes wird immer vom Lebendigen zerkrümelt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen