Mehr als Karneval

■ 30.000 Lesben und Schwule verteilten sich am Christopher Street Day in Berlin auf zwei Demonstrationen

Berlin (taz) – Getrennt stöckeln & Flagge zeigen war diesmal auf der Berliner Christopher-Street- Demo angesagt, die seit vierzehn Jahren stattfindet. Von der Vorbereitungsgruppe für den CSD hatten sich „autonome“ Lesben und Schwule abgespalten, denen das europaweite Konzept unter dem Namen „Europride“ zu unpolitisch und zu kommerziell daherkam. Sie demonstrierten mit etwa 12.000 TeilnehmerInnen im Ostteil der Stadt, während im Westen auf dem Ku'damm mit nur knapp 20.000 Lesben und Schwulen weit weniger kamen als die erwarteten 50.000.

„Die Bullen verlangen, daß die Amazonen Pfeil und Bogen und die Doppeläxte abgeben, weil es sich um potentielle Waffen handle“, schallte es kurz vor dem Beginn der Demo (Ost) aus dem Lautsprecherwagen. Die DemonstrantInnen quittierten die denkbar absurde Aufforderung mit Pfiffen und Gelächter; die vier Amazonen, die den Demonstrationszug zu Pferd anführten, konnten ihre „Waffen“ behalten.

Acht Lesben stemmten sich mit aller Kraft gegen den Wind, um das pinkfarbene Haupttransparent mit dem Motto der Demo vorneweg zu tragen: „Grenzenlos gegen Ausgrenzung – Internationale Lesben- und Schwulendemo gegen Sexismus, Rassismus, Faschismus und Antisemitismus“. Unter Samba- Rhythmen setzte sich der Zug von Friedrichshain in Richtung Scheunenviertel in Bewegung.

Unter den 12.000 TeilnehmerInnen waren allerdings nur wenige ausländische Gäste zu sichten. Eine slowenische Lesbe lief trotz Gipsfuß die fünf Kilometer lange Strecke mit. „Ich finde die Demo toll“, sagte ein Schwuler aus London, „auch weil sie mitten durch Wohngebiete führt.“

Doch die Demonstration war mehr als ein bißchen Karneval und Familientreffen. In der Großen Hamburger Straße, in der eine Gedenkstätte an die Deportation von 55.000 JüdInnen erinnert, legten die DemonstrantInnen kleine Steine nieder. Schwule der Alternativen Liste nutzten die Demo, um Unterschriften für das Referendum Doppelte Staatsbürgerschaft zu sammeln. Das Stadtstudio des rechtskonservativen Radiosenders Hundert,6 wurde mit rosafarbenen Klopapierrollen umwickelt, und vor den Außenstellen der Botschaften Rußlands, Polens und Großbritanniens wurde auf die homophobe Gesetzgebung dieser Länder hingewiesen.

Bei der Abschlußkundgebung auf den Wiesen im Tiergarten standen die Anschläge auf ImmigrantInnen und Flüchtlinge im Mittelpunkt der Reden. – Auf der Demo (West) dominierten stärker als je zuvor die Vereinsmeier und die Karnevalswagen der Kneipen die Szenerie („Flasche Sekt 15 Mark, Becher 5 Mark“); sogar ein veritabler Sattelschlepper wurde erstmals gesichtet. Größere politische Reden: Fehlanzeige. Wer etwa die Abschluß-Statements hören wollte, war dazu verdonnert, mit der S-Bahn aus der Innenstadt weit raus zum „Europride“-Festivalort Wuhlheide zu fahren, zum „Partyland“ im Freizeitpark.

Obwohl viele deutsche und europäische Städte ihre CSD-Paraden wegen Berlin verlegt hatten, wurden auf der Demo größere internationale Delegationen vermißt. Zum Vergleich: Beim Londoner „Europride“ waren 1992 um die 100.000 Demonstranten aufgelaufen.

Die Spaltung des Berliner CSD in separate Demos und Parties fanden viele von denen, die überhaupt davon wußten, „idiotisch“ oder „für Außenstehende nicht nachvollziehbar“. Manche(r) konnte aber auch die Argumente der autonomen DemonstrantInnen im Osten verstehen. Etwa die schwulen Provinzkämpfer aus dem erzkonservativen Fulda oder die Lesbe und frühere Berliner Frauensenatorin Anne Klein, die beide Demos besuchen wollte. Sie bezeichnete die Kritik am Kommerz als „zum Teil richtig“. Die Spaltung aber führe dazu, „daß es auf beiden Seiten langweiliger wird“. Ein erster Ansatz für einen einheitlichen CSD 1994 könnte der Aufruf sein, den eine Gruppe von Lesben und Schwulen auf beiden Demos als Flugblatt verteilte: „Wir sind eine Minderheit in diesem Land, wir sollten unsere Kräfte bündeln, statt durch Streit viel Zeit, Kraft und Geld unnötig zu verbrauchen.“ Dorothee Winden/H.-H. Kotte