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Warnung vor dem Hunde

Ein Spaziergang an der deutschen Ostgrenze entlang der Neiße / An jedem Zaun ein heißer Draht, vor jedem zweiten Haus ein bissiger Hund / „Wir achten auf jeden Fremden“  ■ Von der Neiße Detlef Krell

Ein schmaler, sandiger Pfad windet sich, von Ostritz kommend, an der Neiße entlang bis zum Kloster. Am Weg hocken die typischen Umgebindehäuser unter uralten Bäumen. Seit mehr als siebenhundert Jahren besteht das Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal. Viele Touristen kommen hierher und besichtigen die prächtige Barockanlage, ein steinernes Zeugnis jener Jahrhunderte, als die Oberlausitz unter der böhmischen Krone erblühte.

Die Neiße fließt behäbig. Es ist still hier. Am polnischen Ufer des Flusses weiden Kühe. Noch bröckeln Reste der alten Brücke ins Wasser. Bis 1945 verband sie beide Teile von Marienthal, das Kloster mit dem Oberdorf. Zwei vielleicht fünfzehnjährige Mädchen schäkern mit dem polnischen Grenzposten. Knietief perlt die Neiße über Steinbänke und Schwemmholz. Wasservögel tummeln sich. Drüben setzt sich ein Angler zurecht, hüben leisten sich Klosterbesucher einen Spaziergang.

Plötzlich fällt wildes Gebell über den Fremden her. Ein lebender Hund löst sich aus dem Busch. Ist der Zaun ...? Ja, der Gartenzaun könnte hoch genug sein. Das Tier meint es ernst. Kläfft und tobt und will sich nicht mehr beruhigen. In der Nachbarschaft wird die zweite Stimme wach, die dritte. Ein Gartentor öffnet sich, heraus tritt eine Frau. Sie krault ihre Rassetöle und blickt mißtrauisch auf den irritiert grüßenden Wanderer.

„Ja, wir achten auf jeden Fremden“, lacht ein älterer Mann in das allmählich abklingende Gebell hinein. Er steht im Unterhemd vor seinem Haus und ist gleich zu einem Plausch bereit. „Man muß sich doch schützen.“ Nein, Einbrecher waren bei ihm noch nicht. Und die „Asylanten“, die würden hier wohl kaum in die Häuser einsteigen. „Die sehen doch zu, daß sie wegkommen, ins Land.“ Der Bundesgrenzschutz kreise ab und zu mit dem Hubschrauber über die Gegend, „der könnte aber öfter mal vorbeikommen“. Obwohl, winkt der Mann ab, wer hier über den Fluß steige, „der schafft es nicht weit. Hier haben doch fast alle einen Hund. Da kommt kein Fremder unbemerkt vorbei. Und wenn was Verdächtiges ist, rufen wir den Bundesgrenzschutz an. Wer hier Telefon hat, der kennt auch denen ihre Nummer. Ja, die kommen dann immer sehr schnell.“

Weiße Schrift auf leuchtendroten Schildern erteilt an fast jedem Gartenzaun eine „Warnung vor dem Hund“. So hat jeder Köter vor der Schnauze seinen Grenzabschnitt, den er, frei herumlaufend oder an der langen Leine, menschenleer bellt.

Bei Hildegard S. hängt kein Warnschild am Haus. „Ihr sollt mir Zeugen sein“, steht auf einem mannshohen Kruzifix im Garten. Die Seniorin richtet sich aus dem Gemüsebeet auf, reibt sich den Rücken und malt ihre Worte mit dem Küchenmesser in die Luft.

„Wir wissen nicht, von wann das Kruzifix ist. Ich hab' ja da drüben gewohnt, dann bin ich über die Dörfer gemußt, bis nach Zittau, und dann hat mein Schwiegervater hier das Haus gekauft. Eines Tages, früh, da kam der Bürgermeister mit zwei polnischen Soldaten in den Ort. Und dann hieß es: Bis halb neune müssen wir das Dorf verlassen haben.“ Schon ist die Frau dabei, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die Geschichte einer Vertreibung über eine neue Grenze, von der sie damals noch gar nicht wußte, aus Gründen, die sie nicht begriff.

„Mitgenommen haben wir nischt. Gar nischt. Eh Litterwoagel, ein Leiterwagen, mit eh poar Kartoffeln und bissel Speck. Zehn Tage in einer Scheune hatten wir gehaust, die ganze Familie. Nischt zum Umziehen hatten wir mit.“

Ein einziges Mal nur ist sie später, als die Grenze nach Polen noch geschlossen war, nachts, vor Angst zitternd, über den Fluß. Hat sich ihr altes Dorf angesehen. Später brauchte sie Einladungen und noch später nur noch den Personalausweis. Bis heute liegt der nächste Grenzübergang 15 Kilometer entfernt.

Bei den Flüchtlingen, die heutzutage über die Neiße kommen, ist nach ihrer Meinung alles ganz anders: „Uns hamse rausgeschmissen. Wir sind net freiwillig gegangen. Heute fliehen die Leute vorm Krieg und Hunger? Ja, Krieg ist ja auch furchtbar, wissense. Ich habe bloß mal von abends um sechse bis neune Artilleriefeuer mitgemacht. Das letzte Artilleriefeuer. Aber, wissense, da hoattch genug. Ich habe damals gebetet: Wenn doch bloß die Schießerei wird bald aufhören. Ich sage ja heute och immer, da muß einer dem anderen helfen. Aber ich frage mich, warum hörense denn nicht mit dem Krieg auf da unten? Daß omoal Ruhe ist.“

„Was ich alles schon erlebt habe. Also, ganz gut sieht es auf der Welt nicht aus, auch nicht hier in Deutschland. Ich verstehe ja nicht viel von Politik. Aber, alle keine Arbeit und die ganzen Ausländer. Nee, das stimmt, die Ausländer können nichts dafür, daß wir keine Arbeit haben. Aber, das ist gar nicht so eefach. Ich sehe das bei meinem Schwiegersohn, der hat seinen Ingenieur, aber keine Arbeit. Ich wollte heute in die Stadt, da ist einfach kein Bus gekommen. Die Läden hier, alles zu, wir müssen zum Einkaufen in die Stadt.“

„Ich weeß ja nicht, ob die wieder weggeschickt werden, die als Flüchtlinge hier ankommen. An solche Stellen bin ich ja noch nicht gewesen. Hier lag ja schon öfter Zeugs im Gebüsch, wenn sie sich umgezogen haben. Die hier nachts ankommen, die tun sich ja nicht aufhalten. Ich hatte neulich eine Ausweis gefunden, einen bulgarischen. Alexander hieß der junge Mann, und von der Freundin war da noch ein Bild bei. Den Ausweis haben wir dann abgegeben. Ich mach' ja hier immer im Garten. Und einmal kam hier ein junger Mann langspaziert. Und dann hatte es eine halbe, dreiviertel Stunde gedauert, da fuhr ein Auto, mit dem jungen Mann und noch zweien. Aber jetzt war lange Zeit nichts.“

„Also, bis jetzt ist nichts weggekommen bei mir. Einbrüche habe ich noch nicht erlebt. Die Nachbarn, nein, die auch nicht. Hier kommt ja oft die Armee vorbei und der Zoll. Das hört man ja dann schon am Motorengeräusch.“

Hildegard S. werkelt wieder in ihrem Garten. Einige Häuser weiter bewegt sich zur Straße hin eine Gardine, eine Frau beobachtet das Treiben auf dem Grenzweg. Annerose K. kommt auf den Hof und meint auf die Frage, ob sie denn die Flüchtlingsbewegungen an der Neiße bemerke: „Hier nicht. Die gehen doch weiter unten rüber, durch den Wald. Hier sind viele Bewohner, die Obacht geben. Sind doch fast alle zu Hause. Abends kommen ja ziemlich viel Asylbewerber von Ostritz her, vom Heim. Da schaut man schon mal nach. Das ist ganz klar. Es will ja jeder sein Hab und Gut sichern. Ich würde sagen, das ist ein Durchgangslager in Ostritz. Sonst hätte man ja einen gewissen Stamm, den man so langsam kennenlernt. Es sind aber immer andere Gesichter. Na ja, bei uns ging's bisher, da ist noch nichts weggekommen. Aber im Winter, nach dem Neuschnee, haben wir festgestellt, daß sie auch um die Gebäude herumgelaufen sind.“

Mit dem Bundesgrenzschutz würden die Leute „an und für sich gut“ zusammenarbeiten. „Wenn man was hat und hält sie an, dann sind sie jederzeit ansprechbar. Da gibt es keine Probleme. Wenn was ist, haben wir die Telefonnummer.“ Was sich mit dem 1. Juli verändert, das „weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt. Da kann man nur abwarten.“

Daß Flüchtlinge über die Grenze kommen, findet sie „auf keinen Fall in Ordnung. Man wundert sich nur, daß keine andere Regelung gefunden wird, daß die Leute im eigenen Land bleiben. Es können nicht alle herkommen. Wo sollen die alle untergebracht werden? Es ist ja nicht nur die Unterbringung. Das kostet ja alles.“

Heinz K. kommt auf den Hof geradelt. Er erzählt von einer „gewissen Unsicherheit“ des Lebens, die er „nicht unbedingt auf die Grenze schieben“ will. „Es gibt auch bei uns Diebe, also nicht bloß, daß das Asylanten sein müssen.“ Doch „in die Pilze“ würde hier keiner mehr gehen, aus Angst.

Besser wäre es, finden die beiden etwa Sechzigjährigen, der BGS würde nicht nur mit dem Hubschrauber, sondern „öfter mal zu Fuß“ kommen, denn „so stellt man ja mitunter mehr fest“. Erstaunt ist der Mann auch darüber, daß in seinem Ort keine Hilfspolizisten für den BGS angeworben wurden. Schon früher hätte man sich bemüht, die Grenze der DDR zu sichern, nun die Grenze der Bundesrepublik, doch „letzten Endes ist es doch für die Leute, die an der Grenze leben, im eigenen Interesse“. Dieses Interesse sei, „daß nichts vorkommt. Wenn man was feststellt, muß man sich bemühen, das abzustellen. Wenn Sie bei mir ans Telefon gehen, da haben Sie die Nummer vom BGS dran hängen. Das muß man, dazu fühle ich mich als Bürger verpflichtet: Straftaten aufzudecken.“ Straftat wolle er zwar den illegalen Grenzgang nun nicht gleich nennen, doch, ergänzt die Frau, „manchmal kommt noch was mehr raus“.

Gegen „die Verfolgten“ und gegen die „Deutschstämmigen“ habe er nichts, erklärt der Mann. Ihn „stören nur diese jungen Menschen, die in ihrem Heimatland zu faul zum Arbeiten sind und hier auch“. Der Bürgerkrieg als Fluchtursache könnte doch sehr schnell beendet werden: „Wenn die Staaten nichts mehr da runter liefern würden, wäre schon lange Ruhe. Aber die verdienen ja dran.“

Das Ehepaar K. erzählt von „sehr guten Kontakten“ ins polnische Nachbarland. „Wir haben die Einladungen mit der Steinschleuder rübergeschmissen, als das noch unerlaubt war, die Grenze normal zu passieren.“ Bis 1971, als der paß- und visafreie Reiseverkehr mit Polen und der ČSSR unter großem Propagandagetöse eingeführt wurde, war es für DDR-Bürger nur möglich, auf Einladung das „Brudervolk“ kennenzulernen.

Keine Viertelstunde Fußweg ist es vom Haus der K.s zur nächsten Neißebrücke. Sie ist als Grenzübergang immer noch gesperrt. Doch der Bahnhof des deutschen Städtchens Ostritz liegt an eben dieser Brücke auf der polnischen Seite. Ein knarrendes, offenstehendes Gittertor, ein gelangweilter polnischer Posten und hin und wieder ein paar Fahrgäste beleben die Brücke. Die Grenze geht hier mitten durch den Fahrplan. Polnische Züge halten nur für Polen, deutsche nur für Deutsche. Nicht mal Konversation auf dem Bahnsteig ist bei dem spärlichen Zugverkehr möglich; die unterschiedlichen Paßinhaber begegnen sich nicht.

9.100 illegal einreisende Flüchtlinge sind in den ersten fünf Monaten dieses Jahres an Sachsens tschechischer und polnischer Grenze durch den BGS aufgegriffen worden. „Wer wirklich Asyl will“, meinte der Leiter des Grenzschutzamtes Pirna, Steffen Claußner, „verhält sich gesetzeskonform und stellt an einer der Grenzübergangsstellen sein Asylbegehren.“

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