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Spiegelgeschichten

Die Regisseure Raoul Peck und Marcel Simard auf den Französischen Filmtagen in Tübingen  ■ Von Christian Gampert

Die achtjährige Sarah steht am Fenster und schaut auf die Straße. Es ist ein Blick, der ihr Leben verändern wird: Draußen ist zunächst kein Mensch zu sehen, es ist drückend heiß. Aber ganz hinten, auf einer Art Schulhof, haben sich einige Männer versammelt. Sie prügeln auf einen Gefangenen ein, immer wieder auf die gleiche Stelle, auf die Hüfte. Der Gefolterte spuckt Blut, sinkt zusammen. Später wird er mit einer Eisenstange von hinten penetriert. Die Folterer tragen Zivil. Nur ein einziger, der unschlüssig dabeisteht und halbherzig protestiert, ist in Uniform: Es ist Sarahs Vater. Als er seine Tochter auf dem elterlichen Balkon entdeckt, will er sie verscheuchen. Aber es ist zu spät. Der Gequälte, ein Verwandter der Familie, fällt mit blutendem Kopf in den Sand, und seine Augen suchen das Mädchen, die einzige Zeugin.

Diese traumatische Szene wird in Raoul Pecks Film immer wieder auftauchen, als Erinnerungssplitter, der eine Kindheit beendet und ein Leben ruiniert: „L'Homme sur les Quais“ ist die Bilanz des Duvalier-Regimes auf Haiti. Die Männer vom Strand, von den Kais, sind Geheimpolizisten, macoutes genannt. Ihr Anführer Janvier (auf den sich der Titel bezieht) ist ein schwarzer Sadist, der noch in jedem Blick, jedem Fingerschnippen seine Macht spüren muß. Er wird Sarahs gemäßigt regierungstreuen Vater (und die Mutter) ins Exil treiben; das Mädchen bleibt in der Obhut der Großmutter zurück, die in ihrem Laden Kleider verkauft und sich der Polizeiwillkür als einzige widersetzt. Auch sie wird am Ende „verschwinden“.

In der Nacherzählung klingt das alles leicht moralisch – aber Peck hat einen Film gemacht, der nur mit Gesten argumentiert, mit der Leere und dem Licht. Es ist, als ob immer wieder eine Bühne aufgezogen würde, auf der seltsam realistische Puppen ein Rollenspiel aufführen – angeleitet von einem bösen Geist, der in Busbahnhöfen, Kneipen und Kirchen gleichermaßen zu Hause ist.

Peck erzählt aus der Perspektive des Kindes, nüchtern, lakonisch, mit virtuos komponierten Einstellungen und einer tastend sich bewegenden Kamera: Sarah flüchtet in eine Traumwelt. Sie versteckt sich in schattigen Zimmern, sucht nach den Eltern, kramt auf dem Dachboden nach deren Kleidern und starrt übers Meer in die Ferne. Auf der Straße begegnet ihr der Gefolterte von einst als bettelndes, närrisches Wrack. In der Feiertagsmesse lobt der Priester den „natürlichen Führer“ Duvalier. Der Killer Janvier kommt in den Laden und setzt Sarah seine überdimensionierte Sonnenbrille auf. „Es ist nur ein schlechter Traum“, sagt die Großmutter, wenn Sarah nachts aufwacht.

Das Schlimmste an Raoul Pecks Film ist die Stille. Eine lähmende, quälende Ruhe liegt über den Szenen; die Menschen verstummen – gegenüber den Offiziellen, aber auch untereinander. Nazi- und Stasi-Geschichte in der Spiegelung der Dritten Welt – für den deutschen Zuschauer ist das ein skurriles Echo. In der„fremden“ Verkleidung wird das Nekrophile dieser Gesellschaften um so klarer; und in Pecks Kindersicht sind vor Faschisten kuschende Erwachsene ziemlich seltsame Wesen: demontiert, gebrochen, nicht ernstzunehmen. Nur Großmutter gibt Widerworte: Großmutter Courage.

Der Film lief in Cannes, und er lief jetzt, vielbelobigt, auf den Französischen Filmtagen in Tübingen, wo auch der Regisseur Raoul Peck zu Gast war. Peck ist 1953 auf Haiti geboren; als er neun Jahre alt war, ging sein Vater nach mehreren Verhaftungen mit der Familie in den Kongo, später nach Frankreich. Nach dem Abitur wollte der Sohn unbedingt nach Berlin, wo er in den siebziger Jahren zuerst Wirtschaftsingenieur („was Solides“) und schließlich Film studierte und bis vor kurzem noch wohnte. Dürre Daten: vier Länder, vier Sprachen – auf Haiti spricht das Volk Kreolisch, die Oberschicht Französisch und im Exil dann Englisch. Pecks Familie wohnt heute in New York.

Die psychische Unbehaustheit, die eine solche Odyssee mit sich bringt, hat Peck schon früh bekämpft: Sein Vater, ein Entwicklungshelfer, war Besitzer einer Super-8-Kamera, und Filmen und Fotografieren schien auch dem Sohn eine Art Medizin – auch ohne professionellen Anspruch, einfach ein Stück Welt festhalten, weil man immer weiter muß. In seinem „Lumumba“ (dem präzisesten Dokumentarfilm, den ich seit langem gesehen habe) schneidet Peck immer wieder diese liebenswürdig verwackelten Amateuraufnahmen seines Vaters ins dokumentarische Material: spielende, fahrradfahrende Kinder, Gartenfeste, Erinnerung an die Familie; die Mutter vor allem, die als Sekretärin des Bürgermeisters von Kongo-Leopoldville ein Foto des gerade ermordeten Ministerpräsidenten Patrice Lumumba in ihrer Schreibtischschublade findet und ihren Job kündigt, als sie Hanf, schwarzes Tuch und Holz bestellen soll – für Stricke, Augenbinden und Särge.

„Lumumba“ ist ein filmischer Essay. Er rekonstruiert, wie der Kongo (das heutige Zaire) 1961 von Belgien in eine zweifelhafte Unabhängigkeit entlassen wurde, und wie vor allem die USA wegen der im Lande lagernden Uranvorkommen über die UNO (jaja, die Blauhelme) ihren Daumen auf das Land hielten. Er dokumentiert europäischen Dünkel gegenüber dem „Negerpräsidenten“ und das von den ehemaligen Kolonialherren inszenierte Wirtschaftschaos im Land. Peck konfrontiert das mit seinem Familienalbum und befragt dann Augenzeugen und Journalisten. Einer erinnert sich an einen deutschen Fernsehmann namens Peter Scholl-Latour, der damals zu spät kam und sich erkundigte, wie er das Versäumte „nachlesen“ könne. Der Augenzeuge riet ihm zur „Anthologie du Surréalisme“.

Surreal mutet bisweilen auch der Film an, den der Kanadier Marcel Simard in Tübingen aufführte. Dort ergreifen Menschen das Wort, die nach medizinischen Kriterien als (fast) Sprachlose gelten. Aphasiker sind Leute, die nach einer Hirnverletzung Probleme mit der Sprachproduktion haben, manchmal auch mit dem Sprachverständnis. Die Koordinationsnetze funktionieren nicht mehr. Ein Prozent (!) der bundesdeutschen Bevölkerung leidet unter diesem Syndrom.

Jener Minister, der mit dem Satz „Wir müssen mit mehr Zukunft in den Optimismus schauen“ bekannt wurde, produzierte wohl nur eine Fehlleistung. Wer aber ernsthaft an Aphasie erkrankt, der leidet nicht nur selbst, sondern er stellt, um es milde auszudrücken, erhöhte Anforderungen an die Geduld seiner Mitmenschen. Tragischerweise verbirgt sich hinter der gestörten, gehemmten Sprache meist eine geistig völlig rege Person, die alles versteht und vieles zu sagen hätte, es aber nicht ausdrücken kann. Der Aphasiker meint das Richtige und sagt oft das Falsche – wenn überhaupt.

„Les Mots Perdus“ („Verlorene Worte“) beschreibt in vier Episoden den Kampf der Betroffenen gegen Stummsein und Einsamkeit. Simard, gelernter Soziologe und nur durch Zufall zum Film gekommen, hat Aphasiker-Gruppen in Montréal, Paris, Genf und Brüssel besucht, sich die Biographien der Mitglieder erzählen und sie dann als Selbstdarsteller agieren lassen. Wer als Ergebnis nun sozialpädagogischen Betroffenheitskitsch erwartet, der hat sich in den Finger geschnitten: Simard zeigt eine Liebesgeschichte (Sprachübung: „Ich liebe Sie. Sie sind sehr verführerisch.“), einen Disput um die Vereinskasse und die Versuche eines Lehrers, trotz Sprachstörung im Beruf zu bleiben. Einzig die Filmepisode aus Montréal ist von stärkerer Depression umflort; sie stellt den tristen Familienalltag einer aphasischen Mutter nach. Der Rest ist anrührend, manchmal sentimental, manchmal aber auf so optimistische Weise komisch, als hätte Herbert Achternbusch Regie geführt.

Dabei hat Simard natürlich nie auf diesen Effekt geschielt. Er wollte ein Problem bekannt machen, hat unendlich viel Geduld gehabt, Szenen endlos wiederholt und eine ehrliche Arbeit zustandegebracht. So blöd es auch klingt: jedes Wort ein Punktsieg, jeder Satz ein Abenteuer. Wer als Normalsprecher bei Simard zuguckt, wird nach dem Film erst einmal die Klappe halten.

Natürlich sind auch Raoul Pecks Gestalten sprachgestört, aber auf einem anderen Niveau. „Der Mann von den Kais“ vergiftet alle Beziehungen: Eheleute schlafen nicht mehr miteinander, Geburtstagslieder klingen schal, wer Wandparolen liest, wird bestraft. Alles nur ein schlechter Traum. Am Ende geht Sarah, die Achtjährige, mit ihrer Freundin an den Strand. Das ist verbotene Zone, Polizeigebiet. Sie schaut übers Wasser nach Kuba, wo die Eltern im Exil sind, sie summt vor sich hin. Als der Folterer Janvier auftaucht und die Freundin zu vergewaltigen versucht, schießt Sarah ihm eine Kugel in den Kopf. Sie macht das ganz sachlich. Dann singt sie weiter. Klar, der Strand ist die Weite, das Meer, die Freiheit. Für Sarah ist er viel weniger: einfach ein Ort, an dem sie einmal ungestört spielen möchte.

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