: Fünf Jahre danach: Norplant in Brasilien
■ Nach der Beendigung eines Testlaufs mit Norplant suchten Solange Dacach und Giselle Israel nach den getesteten Frauen /Interview mit Giselle Israel
1984 begannen in Brasilien Tests mit dem Langzeitverhütungsmittel Norplant. Über 3.500 Frauen im ganzen Land wurden die fünf Jahre wirksamen Hormonkapseln eingesetzt. Koordinator der Studie war der Vertreter des US-Population Councils in Brasilien, Dr. Anial Faundes von der Universität UNICAMP. Nachdem Frauengruppen bekannt machten, daß dabei nicht einmal die Mindestkriterien für klinische Versuchsreihen eingehalten wurden und die beteiligten Frauen unter schweren Nebenwirkungen litten, entzog das Gesundheitsministerium Anfang 1986 die Erlaubnis für die Weiterführung der Studie. Fünf Jahre später machten sich die Ärztin Giselle Israel und Solange Dacach vom Frauenprojekt REDEH (Netzwerk zur Verteidigung der menschlichen Gattung) auf die Suche nach den Frauen, die in Rio de Janeiro an den Tests beteiligt waren. Von den brasilianischen Erfahrungen mit Norplant berichten sie nun in ihrem Buch „Die Routen von Norplant – Abwege der Verhütung“.
taz: Euer Buch hat in Brasilien hohe Wellen geschlagen. Welche Erfahrungen haben die Frauen mit Norplant gemacht?
Giselle Israel: In Rio wurde 301 Frauen Norplant eingesetzt, und zwar in Familienplanungszentren, die mit ausländischen Geldern finanziert werden. Mit 52 Frauen konnten wir Kontakt aufnehmen und Interviews führen – Dutzende waren unbekannt verzogen, andere antworteten nicht auf unsere Briefe. Der Zustand, in dem wir die Frauen antrafen – sie leben alle in Elendsvierteln – war schockierend. Die Verantwortlichen hatten keinerlei Ethik, Interesse oder Respekt gegenüber den Frauen gezeigt. Nur die Hälfte der Frauen wußte, daß es sich um Tests handelte. Die wenigsten wurden vor dem Einsetzen untersucht und auf mögliche Kontraindikationen hin befragt.
Was waren die Nebenwirkungen von Norplant?
Bei zwei Drittel der Frauen veränderte sich der Menstruationszyklus. Einige bluteten 20, 30 Tage lang ununterbrochen, andere hatten ständige Schmierblutungen, bei einigen blieb die Regel ganz aus – so daß sie fürchteten, schwanger zu sein und sich zum Teil sogar vermeintlichen Abtreibungen unterzogen. Jede fünfte Frau litt unter Kopfschmerzen, nervösen Angstzuständen, Gewichtsveränderungen, Schwindel, Entzündungen an der Einpflanzstelle und Libidoverlust. Einige Frauen hatten Koliken, Übelkeit, Haarausfall, Eierstockzysten, Sehstörungen und weitere gravierende Beschwerden.
Wie reagierten die Ärzte?
Durchgehend so, daß sie die Frauen beschwichtigten, ihnen sagten, „das ist alles ganz normal, das spielt sich schon ein“. Oft weigerten sie sich, das Implantat zu entfernen, unter anderem mit dem Argument, Norplant sei zu teuer, sie müßten es mindestens drei Jahre behalten. Einige Frauen, die wir befragten, trugen das Implantat sogar noch – obwohl die fünf Jahre Wirksamkeit schon abgelaufen waren. Viele Frauen haben sich von den Ärzten einschüchtern lassen. Ihr Hauptmotiv war, bloß nicht schwanger zu werden. Die Nebenwirkungen haben sie „als gerechte Strafe“ dafür empfunden, daß sie Verhütungsmittel nehmen.
Sie hatten das Gefühl, daß das der Preis dafür ist, den sie mit ihrem Körper zahlen müssen, um nicht schwanger zu werden?
Es wurde deutlich, daß die Frauen davon ausgehen, daß sie den Ehemännern sexuelle Pflichten erfüllen müssen. Der brasilianische Macho-Mann kommt nach Hause und will mit seiner Frau schlafen – es spielt keine Rolle, ob die Frau will oder nicht. Norplant war für die Frauen daher eine Beruhigung. Zum Problem wurde es oft erst durch die Blutungen, denn viele Männer mögen nicht mit einer menstruierenden Frau Sex haben. Oft waren es die Männer, die darauf bestanden, Norplant wieder zu entfernen. Ein weiterer Konfliktpunkt war die Verringerung ihrer sexuellen Lust.
Das heißt, die Frauen haben die Blutungen nicht als gesundheitliches Problem wahrgenommen, sondern als Problem von Tabus und Konflikten mit dem Mann?
Ja, oft haben sie die Krankheiten, die sie bekamen, gar nicht in Verbindung mit Norplant gebracht. Erschreckend war für uns, wie sehr die Frauen in den medizinischen Diskurs eingebunden sind. Sie gehen zum Arzt, weil sie sich schlecht fühlen, und er sagt ihnen, es sei alles „in Ordnung“, „alles normal“. Die Frauen erkennen die Autorität des Arztes völlig an. Einige Frauen, die wußten, daß es sich um Tests handelte, hatten sogar das Gefühl, daß es ihnen einen besonderen Status verlieh, ein „kostenloses und dauerhaftes Produkt“ zu bekommen. Die Tatsache, daß Norplant aus den USA kommt, machte es zu einem „Fetisch“, erhöhte ihren Stolz. Sie haben das Gefühl, zum Fortschritt der Wissenschaft und ihres Landes beizutragen. Das rechtfertigt jede Nebenwirkung.
Verschwanden nach der Entfernung von Norplant die Beschwerden?
Viele Frauen haben das Herausoperieren als sehr schwierigen und schmerzhaften Eingriff empfunden. Teilweise hörten die Symptome nach dem Entfernen auf, bei anderen blieb es beim menstruellen Chaos. Einige Frauen, die danach schwanger wurden, hatten Fehlgeburten und Eileiterschwangerschaften. Mindestens eine Frau wurde unfruchtbar. Sie führt jetzt mit unserer Unterstützung einen Prozeß gegem die Ärzte. Weitere 15 Frauen haben eine kollektive Anzeige vor Gericht erstattet, sie verklagen die Kliniken auf Entschädigung und fordern, daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Interview: Ingrid Schneider
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