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Rückkehr der Nomenklatura

In der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan tritt Gaidar Alijew, einst Mitglied des Politbüros der KPdSU, seine zweite Herrschaft an  ■ Aus Baku Klaus-Helge Donath

Der rostige Kahn sticht in See. Zum zehnten Mal an diesem Tag. An der Promenade sammelt sich sogleich von neuem ein ansehnliches Häuflein. Eine Fahrt nach nirgendwo. Raus aufs Meer und wieder zurück. Alles in allem eine halbe Stunde. Jung und alt sind dabei. Sie stürmen an Deck, als wär's das erste Mal. Seit eh und je fahren die Bakuer hinaus auf ihre Kaspische See, um mal eben eine frische Brise zu inhalieren. Die Sonne spielt mit dem Meer Regenbogen. Ein kräftiger, satter Farbenspiegel irritiert das Auge. Eben noch funkelndes Blutrot, nun stechendes Zitronengelb.

Die Einheimischen sehen es nicht mehr. Erst die riesige Rauchsäule hinten in der Stadt erheischt ihre Aufmerksamkeit. Hat die Rebellion nun doch noch die Straßen Bakus erreicht? Für einen Augenblick schauen sie zurück. Buchstäblich einen Augenblick. Was hinten liegt, wird gleich vorne sein. Noch einmal ein Blick aufs Meer und tief Luft holen. Abschalten. Verschwindet die Sonne hinter einem Wolkenfetzen, verwandelt sich die schillernde Meerespracht in eine braunbrackige Soße. Bakus Bucht ist ein einziges Altölbecken. Seit hundert Jahren wird hier gefördert und vergeudet. Ein Geruchsgemisch aus Meer und Öl hängt über der Stadt.

Die britische „Petroleum Company“ hat wieder ihr altes Gebäude an der Uferstraße bezogen. Die Zinktafel mit dem Firmenemblem hing anscheinend all die Jahre über dort. Sie begann mit der Ausbeutung im 19. Jahrhundert. Das Geschäft florierte damals. Namen wie Nobel und Rothschild sind glaubhafte Zeugen. Dieser Epoche verdankt die Stadt ihre großzügige europäisch urbane Architektur, überladenen Jugendstil und protzigen Klassizismus. Schräg gegenüber der Filiale kontrollieren reguläre Armeeinheiten und Freiwillige vorbeifahrende Pkws. Natürlich sind sie Paramilitärs und eigentlich nicht gesetzlich. Doch wen stört das schon? Sie tragen Waffen, spielen sich aber nicht auf. Eher lässig handhaben sie die Kontrollaufgabe. Vor dem Polizeirevier – einen Steinwurf entfernt – stehen sie ebenfalls in Trauben herum. Sie rauchen und plaudern. So recht geglaubt hat keiner von ihnen an eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Surat Husseinow, dem putschenden Oberst und jetzigem Ministerpräsidenten. Die meisten nennen ihn bei seinem Vornamen.

350 Kilometer sind es bis in die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans Gandscha. Am 4. Juni überfiel hier die 130. Division die benachbarte 709. Und richtete ein widerliches Blutbad an. Angeblich sollte Husseinows Verband, die 709., aufgelöst werden. Präsident Eltschibej hatte den Ukas unterzeichnet. Der ungehinderte Vormarsch dient vielen und nicht nur den Abgeordneten der Medschlis, des Parlaments in Baku, als Beweis für die Überdrüssigkeit der Bevölkerung gegenüber der Regierungspolitik.

Eltschibej verließ die Stadt in Richtung Nachitschewan, eine aserbaidschanische Exklave, die von Armenien und dem Iran eingeschlossen ist. An Ansehen hat er dadurch nicht gewonnen. „Wir leben doch im Osten“, meint ein Rentner auf der Straße, wenn jemand seine Familie verläßt, versteht das hier keiner.“ Die meisten denken wohl so. Noch vor einem Jahr gingen Massen für Eltschibej, der als rein und weiß galt, auf die Straße. Er war einer der wenigen, der sich nicht mit dem alten System besudelt hatte. „Erst kommt Allah, dann Abulfaz Eltschibej“, lobpreiste man ihn damals.

„Er ist an den ganzen Entwicklungen gar nicht schuld“, rückt ein anderer Passant das Bild ein wenig zurecht. Eltschibej ist einfach nicht der richtige Mann für so ein Amt ... zu schwach, er läßt sich von seiner Umgebung mißbrauchen und ausnutzen.“ – „Man sollte ihn als Botschafter in ein arabisches Land oder so schicken ...“

Solche Stimmen sind häufig zu hören. Noch will man sich von seinem einstigen Idol nicht ganz lossagen. Dann hebt eine Schimpftirade an gegen die ganzen Schmarotzer, die in der Regierung sitzen. Innerhalb eines Jahres hätten sie sich unverschämt bereichert ... Riesenvillen ... Volvos – undundund. Aber bitte? Erstaunt das noch jemanden? Ist das nicht eher eine Selbstverständlichkeit in Aserbaidschan? Korruption und Bestechung waren hier doch immer institutionalisiert. Jeder wußte, wie er was wofür bei wem erstehen konnte. Sei es ein Universitätsdiplom oder sonst was. Selbst Ministerposten wurden zu Zeiten der Kommunisten verhökert.

Langsam werden die Häuserblocks weniger. Schon thronen Stahlskelette zwischen ihnen. Verrostet und trostlos. Müde schwingen sie ihre Hämmer, als schafften sie es gerade noch einmal über den toten Punkt. Bohrtürme in der „schwarzen Stadt“, im Westen der Apscheron-Halbinsel. Es werden immer mehr, ziehen den Hang hinunter bis zur Bucht. Nur ein Bruchteil von ihnen arbeitet noch. Die veraltete Technik schafft es nicht, die Löcher leer zu pumpen. Aus riesigen Pfützen ragen sie hervor, mit perlmuttschimmernder Flüssigkeit und verteerten Rändern. Aus dem Ölgarten wurde ein Industriefriedhof. Kein Leben weit und breit. Oben am Hang mit Blick über Bucht und Friedhof baut sich ein Wohlhabender eine letzte Ruhestatt, ein üppiger Rundbau im maurischen Stil.

Die Landschaft ist öde, die Hügelkette gelblichgrau, kein Baum, der sie belebte. Dann eine endlose Ebene, versteppt und eintönig. Schon von weitem sieht man die Posten an der Straßengabelung. Lkws verengen die Durchfahrt. Jeweils zwanzig Husseinow-Getreue halten Wacht. Die meisten von ihnen sind sehr jung. Sie schieben ihren Kommandeur vor. Er soll antworten. Sie alle seien Freiwillige und seit Gandscha dabei. Seinen Namen will er nicht preisgeben: „Nenn mich plotnik“ – Zimmermann auf Russisch. Als Beweis streckt er seine kräftige, fingerkuppenlose Hand entgegen. Warum ist er dabei? Um der Familie wieder zu einem würdevollen Leben zu verhelfen. Das Vaterland gegen Verräter zu verteidigen. Seit die Volksfront an der Macht sei, habe Aserbaidschan immer mehr Land verloren.

Der Plotnik meint Nagorny-Karabach, die von Armeniern im Südwesten des Landes bewohnte Enklave. Seit 89 tobt dort ein sinnloser Kleinkrieg. Anfang 92 wendete sich das Kriegsgeschick. Die Armenier nahmen einen Quadratmeter nach dem andern. Als er begann, ließ der Krieg die Bakuer ziemlich kalt Irgendwie war man gleichgültig. Der alten KP-Führung kam er gar gelegen. Willkommene Ausrede, um von den Reformen abzulenken. Für die Nomenklatura galt es, Zeit zu gewinnen. Macht und Reichtum wollten in die neue Ära hinübergerettet werden.

Heute hat sich das Bild gewandelt. Nachdem die Volksfront, die aus der Karabach-Frage politisches Kapital geschlagen hatte, an die Macht gekommen war, zeigte sie sich in diesem Punkt gemäßigter als die Opposition verschiedenster Couleur. Opposition ist etwas hochgegriffen. Nach wie vor beherrschen Clanstrukturen und Sippenloyalitäten die öffentliche Sphäre, politische Gruppierungen mit einem festen Programm können da kaum entstehen.

Der Plotnik verehrt seinen „Surat“. Er wird machen, was der sagt. Einen hohen Grad von Konspiration verbreitet er um sich. Woher der Sold, woher die Versorgung? Alles wird zu einem „militärischen Geheimnis“. Einen Bruderkrieg möchte er nicht. Danach sieht es auch nicht aus. Wo sie auf Regierungstruppen gestoßen seien, habe man sich sofort verstanden ... Schelmisch verzieht er seinen Mund.

Der Plotnik ist sich sicher: die Russen schüren den Konflikt in Karabach. Sprungartig wechselt er das Thema: „Wir hatten schon eine eigene Literatur, als die Russen ... noch ...“ – „in den Sümpfen lebten“, helfe ich ihm. Er meint den Dichter Nizami aus dem 12. Jahrhundert. In Aserbaidschan behandelt man ihn wie den Begründer der Nationalliteratur. Nur hat es einen kleinen Haken, der die historische Komplexität dieser Region aufzeigt. Nizami schrieb Persisch, er war einer der sieben Großen der persisch-mittelalterlichen Dichtung. Keines seiner Werke erschien in einer der vier Dialekte des Aserbaidschanischen, einer Turksprache.

Nizamis Bild hängt auch bei Dschingis Abdullajew als Wandteppich. Abdullajew ist Sekretär des Schriftstellerverbandes. Gerade kommt er aus einer Sitzung mit Vertretern der Intelligenz. Gleich zu Anfang gibt er seinen Lebenslauf preis. Bis zur Übernahme des jetzigen Postens war er Mitarbeiter des KGB. Er muß sich also auskennen. Abdullajew steckt gleich die Koordinaten ab: „Eine parlamentarische Demokratie im westlichen Sinne wird es bei uns nie geben.“ Er heißt die Inthronisierung Gaidar Alijews zum neuen Präsidenten ausdrücklich gut. Denn schließlich war dieser bis 1985 schon einmal zwölf Jahre lang Herrscher über Aserbaidschan, außerdem Mitglied des Politbüros der KPdSU und im Ministerrat der UdSSR. Nomenklaturtschik der reinsten Sorte. Auf Bakus Straßen, auf den Märkten, in den Taxis – überall das gleiche Bild: Alijew fürchtet man nicht, man sieht in ihm den Retter!

Gleich nach seiner Ernennung traf sich Alijew mit der Intelligenz: „Eltschibej hatte dazu seit einem Jahr keine Zeit.“ Abdullajew nutzt das zu einem gekonnten Übergang: „In der Volksfront hat ein Prozeß der ,Lumpenproletarisierung‘ um sich gegriffen.“ Das scheint geregelter Sprachgebrauch ihrer Gegner zu sein. Wem das Proletariat wirklich huldigt, bedürfte einer minutiösen Analyse und würde im Endeffekt keinen Nutzen bringen. Es steht hier wie dort.

Die Türkei hat sich in Baku kräftig eingekauft. Geschäftsleute mauscheln überall. Abdullajew behauptet, die protürkische Haltung habe sich mittlerweile abgenutzt: „Ich glaube an Allah, alles andere in bar!“ beschreibt er die Haltung der Türken. Bei den Russen sei es ganz anders gewesen: „Da zählten noch geistige Werte!“ meint er allen Ernstes. „Wir sind mit Rußland enger verbunden als mit der Türkei. Passiert dort etwas, wirkt es sich innerhalb von zwei Stunden auf uns aus.“ Alijew würde ihm da sicher zustimmen. Die Nomenklatura ist zurückgekehrt, diesmal im Rettergewand. Dem Plotnik werden erst später die Augen aufgehen.

Und auch die Zahl der Opfer des Krieges um Karabach wird weiter wachsen. Täglich werden die Gräber im ehemaligen Park Sehidlar Chiyabain hoch oben über der Stadt mehr. Ist eine baumbestandene Terrasse aufgefüllt, wird eine Betondecke über die Helden gegossen. Viel Platz bleibt nicht mehr. An diesem Abend verlieren sich hier nur ein paar Jugendliche. „Als die Sonne in ihrem Mantel aus Scharlach versank und hinter ihr die Nacht aufstand mit der Abendsternblüte im blauen Gewand“, (Nizami) beginnt die Ausgangssperre in Baku.

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