: „Gruppe mit ungezogenen Mädchen“
■ Acht Mädchen und sechs Frauen arbeiten in der Reisenden Werkschule Scholen
Die blonde junge Frau räkelt sich auf der schmalen Holzbank, holt sich ein schwarzes Kätzchen auf den Schoß und blinzelt in die Sonne. Die junge Frau ist Ulrike. Ulrike ist „sozial besonders benachteiligt“. Mädchen wie Ulrike, schulmüde, arbeitslos oder „schwer erziehbar“, landen leicht im Erziehungsheim oder auf Trebe. Ulrike hatte Glück: Sie kam nach Scholen. Sie hat vor ein paar Wochen den qualifizierten Hauptschulabschluß geschafft und wird demnächst eine Lehre in einer Hotelküche beginnen. „Dazu gehe ich wieder zurück nach Bremen; ich bin sowieso die Dienstälteste hier.“
Zwei Jahre hat Ulrike in Scholen gelebt, einem kleinen Ort 45 Kilometer südlich von Bremen im Landkreis Diepholz. Dort befindet sich auf einem knapp 5.000 Quadratmeter großen Hof die Reisende Werkschule Scholen e.V.. Von Jugendämtern aus ganz Norddeutschland, besonders aber vom Bremer Jugendamt vermittelt, holen hier seit 1982 benachteiligte Jugendliche ihren Hauptschulabschluß nach. Sie alle sind zwischen 15 und 17 Jahren. Scholen, das ist eine Art Internat mit einem höchst anspruchsvollen Erziehungsprogramm.
In einer ersten Phase lernt man in Scholen, wie Alltag zu schaffen ist, wie man sich zur Gemeinschaft zusammenrauft. Später kommt die „Große Reise“ in
hier bitte die Frauengruppe
ein Land der Dritten Welt. Zum Schluß erst heißt es: Schulbank drücken.
In einer großen Wohngemeinschaft wohnen, lernen und arbeiten die zur Zeit acht Mädchen und sechs Erzieherinnen zusammen, bewirtschaften gemeinsam Haus, Garten und einen kleinen Hof mit Hühnern, Schafen, Bienen und Katzen, und üben sich in Handwerksbereichen wie Holz und Bau, Kfz und Metall, Textil, Fotografie und Druck.
Nicole hat sich in der kleinen Schreinerei ihr eigenes Bett gebaut. Sie hängt an dem kleinen düsteren Raum mit den drei Werkbänken in einer der aufgelassenen Stallungen. In der gros
hier bitte den Kasten
sen Scheune nebenan üben die Mädchen am hauseigenen Ford das Wechseln von Reifen und Bremsbelägen. Weniger versessen scheinen sie dagegen auf Gartenarbeit zu sein: Beim Beerenpflücken und Rasenmähen hat die Idylle schnell ihr Ende.
„Und wer mäht jetzt die Wiese zu Ende?“ Nicole hatte keine Lust mehr und sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht sitzt sie in ihrem Zimmer oder in einer der vielen Ecken im Haus, wohin sich die Mädchen zurückziehen können, wenn sie es nicht mehr aushalten. Manchmal hilft auch das Auspowern im Fitneßraum oder das Trommeln auf einer der selbstgebauten Congas. Trotzdem wird es wieder heftig Streit geben. Nur zwei Bereiche im Haus sind davon ausgenommen: Das „Friedenszimmer“ bei den Mädchen und die Wohnräume der Erzieherinnen, die „Tabuzone“.
„Ein reines Mädchenprojekt sind wir erst seit zwei Jahren.“ Ursula Jenkner, eine der Betreuerinnen, erzählt aus der Geschichte der Reisenden Werkschule. 1979 hatten „zwei Hände voll“ engagierter und enthusiastischer Pädagoginnen aus der Tradition der „Reisenden Hochschule“ (s. Kasten) den Scholener Backsteinhof gekauft und zu ei
nem Wohnhaus mit Werkstätten umgebaut. Drei Jahre später konnte der neugegründete Trägerverein die ersten Jugendlichen für eineinhalb- bis zweijährige Kurse aufnehmen, die von den Jugendämtern mit Tagessätzen bezahlt werden. Das geschah zunächst koedukativ.
„Da sind die Mädchen jedoch in ihre traditionelle Rolle gedrängt worden und hatten kaum Gelegenheit, nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen aktiv zu sein. Deshalb haben wir beschlossen, diesen letzten Kurs als ersten reinen Frauenkurs zu starten“, so Ursula Jenkner. Die Mädchen finden das „geil“. Die sechzehnjährige Nicole meint:
„Anfangs ging mir das schon auf die Nerven, aber das Gute ist, daß es ohne Jungs keine Eifersucht gibt. Und wenn Mädchen 'ne schlechte Vergangenheit haben, reden die wohl leichter mit anderen Mädchen oder Frauen.“
Pflanzen und ernten, Holz bearbeiten und Tiere versorgen: all das ist schon eine Art „Überlebenstraining“ für die Große Reise. Nach einem Jahr und einem Sprachkurs in England heißt das Ziel: Afrika.
Nicole, Ulrike und die anderen fuhren diesmal nach Manduar im westafrikanischen Gambia, einem der ärmsten Länder der Erde. Dort bauten sie mit den DorfbewohnerInnen ein community center, ein Gemeinschaftshaus. „Anfangs hatte ich ziemliche Angst vor Afrika“, erzählt Nicole, „bekam einen Hitzschlag, und hatte Mumps. Dafür hatte ich keine Sprachprobleme, und zu einer Familie hab' ich heute noch den super Kontakt.“
„Natürlich haben wir Aufruhr ins Dorf gebracht; wir waren angekündigt als Gruppe mit Mädchen, die ungezogen sind“, lacht die pädagogische Mitarbeiterin Maren Mutschall. „Außerdem war es natürlich für die Einheimischen erstmal ungewöhnlich, daß wir uns als Frauen am Hausbau beteiligen wollten.“
Zumindest laut Plan halfen die Mädchen von morgens 8 Uhr bis Mittag am communtiy center mit. Lieber jedoch waren sie nachmittags auf dem Feld bei der Erdnußernte. „Ansonsten war ja nicht viel los“, erinnert sich Ulrike, „alle zwei Wochen Disco mit warmer Fanta und warmer Cola, Ataya-Trinken und Fußballspielen.“ — „Na ja, und die Drogen sind ja da ziemlich frei“, murmelt Nicole.
Und viel dabei gelernt. Zurück in Deutschland schrieben die Mädchen eine kleine Broschüre mit afrikanischen Märchen, Tagebuchnotizen und Kochrezepten (z.B. wie Ataya-Tee zubereitet wird); das Heft zeigt die Frauen aus Manduar beim Tanz auf dem Dorfplatz und erzählt eine Liebesgeschichte — „Wir heulten am Anfang in Afrika, und am Ende heulten wir wieder“, sagt Nicole.
Im alten Scholener Bauernhaus gibt es ein richtiges Dorfschulzimmer mit Wandtafel, Globus und Landkarte. Dort werden die Mädchen — zurück aus Afrika — von ihren Betreuerinnen in allen Hauptschulfächern unterrichtet. Sie können sich freiwillig für die Prüfung anmelden, die von der Kreisvolkshochschule Diepholz im Haus abgenommen wird. Dann heißt es auch von Scholen Abschied nehmen; die Mädchen planen ihre nahe Zukunft, suchen Unterkünfte, Ausbildungs- und Arbeitsplätze oder gehen zurück zu den Eltern.
Immerhin haben noch die meisten ScholenerInnen den Abschluß geschafft und eine gewisse Selbstverantwortlichkeit entwickelt. Es gibt aber auch welche, die gleich nach Scholen in den Knast gehen; manch eine wird, wenn sie die „Oase“ verläßt, von den alten Problemen wieder überwältigt.
Wichtig ist der Werkschule, daß die Mädchen überhaupt neue Perspektiven entwickeln. Für Nicole sieht es erstmal duster aus: Sie hat ihren Hauptschulabschluß geschmissen, sie verläßt Scholen und möchte weiter zur Schule gehen: „Ich will Grafikerin werden, aber im Moment weiß ich noch gar nicht, wo ich hin soll.“ Für Mädchen wie sie soll auf Initiative der Reisenden Werkschule im nahegelegenen Bassum eine Nachbetreuungseinrichtung mit Wohnungen aufgebaut werden. Silvia Plahl
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