■ Stadtmitte: Kommerzzentren anstelle von Bahnhöfen
Erinnern Sie sich noch an das Märchen vom dezentralen Bahnkonzept in Berlin? Es war einmal das „Achsenkreuzmodell“, das die Lösung (fast) aller Verkehrsprobleme in der Hauptstadt versprach. Die alten Radialstrecken und die historische Stadtbahn sollten wiederhergestellt und durch eine neue, unterirdische Nord-Süd-Verbindung ergänzt werden. Um die beiden Stadthälften wieder miteinander zu verbinden sowie das Regierungsviertel und die neuen Dienstleistungszentren optimal zu erschließen, sollte eine ganze Reihe von Fern- und Regionalbahnhöfen ausgebaut oder völlig neu geplant werden: die Bahnhöfe Spandau, Gesundbrunnen, Papestraße, Friedrichstraße, Hauptbahnhof und schließlich, als zentraler „Umsteigebahnhof“, der Lehrter Bahnhof. Die Bahn versprach goldene zeiten und attraktive Dienstleistungs- und Einkaufszentren an den neuen Verkehrsknotenpunkten.
Doch als der Bundesverkehrswegeplan aufgestellt wurde, schrumpfte das Achsenkreuzmodell zum „Pilzkonzept“. Verkehrssenator Herwig Haase bekannte jüngst: „Das Pilzkonzept ist nicht das, was sich Berlin vorgestellt hat, sondern lediglich ein Einstieg.“
Ein Einstieg, aus dem es freilich keinen Aussteig geben kann – und das ist der eigentliche Schwachpunkt dieser Variante. Während alternativ diskutierte Planungen – Ring- beziehungsweise Zwiebelkonzept – sukzessive hätten realisiert werden können und schon kurzfristig die chaotische innerstädtische Verkehrssituation verbessert hätten, greift das Pilzkonzept erst, wenn alle Teile – Lehrter Bahnhof mit neuen Gleisanlagen, die Tunnel unter dem Tiergarten einschließlich der Bahn- und Straßenanschlüsse, Ausbau der übrigen Fernbahnhöfe, usw. – realisiert sind, also nicht vor dem Jahr 2000. Angesichts der knappen öffentlichen Kassen ist nicht auszuschließen, daß zwar die Tunnelröhren fristgerecht und ohne Rücksicht auf ökologische Beeinträchtigungen durch Grundwasserschwankungen während der Bauzeiten (ein Gutachten wird der grundsätzlichen Entscheidung für die Tunnellösung nachgeschoben) fertiggestellt werden, um den geplanten Baubeginn des Regierungsviertels im Spreebogen nicht zu verzögern, daß für die Anschlüsse und die dezentralen Bahnhöfe aber kein Geld mehr zur Verfügung stehen wird.
Die Bahn hat aus der konjunkturellen Entwicklung längst ihre Schlüsse gezogen: Weil sie keine Investoren für die geplante „Mantelbebauung“ an den Bahnhöfen Spandau und Gesundbrunnen fand, strich sie kurzerhand diese Planungen. Ein ähnliches Fiasko am geplanten Fernbahnhof Papestraße wäre denkbar, denn die Nachfrage nach hochwertigen Büroräumen konzentriert sich auf die Stadtzentren. Kein Problem: Die Bahn forciert, ohne jede Bürgerbeteiligung und mit Duldung der eigentlich zuständigen Senatsverwaltungen für Verkehr beziehungseise Stadtentwicklung und Umweltschutz, rund um den Lehrter Bahnhof einen weiteren Dienstleistungs- und Shoppingkomplex mitten in der Stadt. Neben dem Potsdamer Platz und dem Alexanderplatz droht dort eine dritte künstliche „Stadt in der Stadt“ zu entstehen, die jeglichen Bezug zur gewachsenen Struktur vermissen läßt und noch mehr Verkehr in die Innenstadt ziehen wird.
Doch um Verkehr im Sinne einer auf die Bedürfnisse ihrer Kunden abgestimmten Dienstleistung geht es der Bahn längst nicht mehr. Es geht um die direkte Andienung riesiger Kommerzzentren. Was liegt da näher, als Bahnhöfe grundsätzlich in Frage zu stellen, wenn dort kein Geschäft zu machen ist? Wer garantiert denn, daß in Spandau und Gesundbrunnen überhaupt noch Haltepunkte für die Fern- und Regionalbahn eingerichtet werden? Schließlich könnte doch der Lehrter Bahnhof, inoffiziell ohnehin schon als neuer Zentralbahnhof gehandelt, diesen Verkehr auch noch aufnehmen. Den Investoren wäre das nur recht... Oliver G. Hamm
Der Autor ist Fachjournalist für Architektur und Stadtplanung.
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