: Infektionskrankheiten unterschätzt
■ Nur wenige relevante Krankheiten sind noch meldepflichtig / Selbst das BGA verliert den Überblick
Ansteckende Krankheiten werden hierzulande sträflich unterschätzt. Die Immunschwäche Aids scheint alle sonstigen Infektionserkrankungen an den Rand des öffentlichen Bewußtseins gedrängt zu haben. Das beklagen Epidemiologen des Bundesgesundheitsamtes, also jene Mediziner, die die allgemeine Gesundheit mit den Mitteln des Datensammelns und der Statistik zu analysieren und aufzubessern versuchen. Erst wenn Risikogruppen bekannt sind, können Schutzimpfungen gezielt empfohlen werden.
Viele klassische Infektionskrankheiten tauchen in Mitteleuropa nur noch sporadisch und als „Importfälle“ auf: Cholera, Pest, Lepra, Gelb- und Fleckfieber, Schrecken früherer Generationen, die heute kaum noch jemand zu fürchten braucht. Hier beginnt jedoch das Problem der Statistiker. Nach dem Bundesseuchengesetz sind vor allem solche Erkrankungen meldepflichtig, die in unseren Breitengraden eher historische Bedeutung haben. Das führte G. Rasch, Mitarbeiter des Robert- Koch-Instituts in Berlin, im Mai im Bundesgesundheitsblatt aus. Das Institut ist dem Bundesgesundheitsamt angegliedert und hat die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten zur Aufgabe.
Ansteckungen, die heute zunehmen, werden vom Bundesseuchengesetz meist nicht erfaßt. Dazu zählen zum Beispiel die Virus-Hepatitis, bestimmte sexuell übertragbare Krankheiten wie Infektionen durch Chlamydien und den Herpes-Virus. Auf dem Vormarsch sind vor allem aber die Infektionen der Atemwege und Lungenentzündungen sowie die „Gastroenteritiden“, das sind Schleimhautentzündungen von Magen, Dünndarm und Dickdarm. Sie werden durch unterschiedliche Erreger in infizierten Lebensmitteln hervorgerufen. „Selbst die nach der Tuberkulose wichtigste infektiöse Sterbeursache, die Sepsis (Blutvergiftung, S.B.), ist nicht meldepflichtig“, beklagt Rasch.
Ohnehin läßt die Meldedisziplin zu wünschen übrig. Die Ärztinnen und Ärzte, so vermutet der Mitarbeiter des Robert-Koch-Insitutes, leben wohl oft in dem Gefühl, einen „Datenfriedhof“ zu bedienen, und verzichten darum lieber auf die Weitergabe ihrer Diagnosen. Hinzu kommt, daß es keine zentrale Zusammenfassung der Daten der Gesundheitsämter gibt. Eine Menge Wissen über Infektionen geht zudem irgendwo zwischen kommunaler, Landes- und Bundesebene verloren.
Auch die Kinderkrankheiten sind nicht meldepflichtig, spielen aber nach wie vor eine große Rolle. An Masern sterben zum Beispiel noch immer acht Kinder pro Jahr in den alten Bundesländern. Die Erkrankungsrate beträgt 40 pro 100.000 Einwohner. In den neuen Bundesländern liegen diese Zahlen bisher noch wesentlich niedriger. Hier gibt es — wegen der wesentlich höheren „Durchimpfungsrate“ in der DDR — nur eine Erkankung pro 100.000 Einwohner. Doch für durchgeführte Impfungen liegen mittlerweile auch für die neuen Bundesländer keine verläßlichen Zahlen mehr vor, es sind, nur das ist bekannt, auf jeden Fall weniger geworden. Der Fachmann vom Bundesgesundheitsamt befürchtet nun ein Ansteigen der Kinderkrankheiten auch in den neuen Bundesländern. Susanne Billig
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