■ Salman Rushdie kritisiert Aziz Nesin: Die „Fatwa“ und die Folgen
Der Fundamentalismus macht Fortschritte: In Algerien wurde vor zehn Tagen einem Soziologen die Kehle durchgeschnitten, kurz zuvor war ein Schriftsteller erschossen und ein Psychoanalytiker erdolcht worden. In Ägypten werden Schriftsteller, die sich religionskritisch äußern, eingesperrt. In der Türkei wurde am Wochenende gleich ein ganzes Hotel in Brand gesetzt, in dem ein paar Schriftsteller, Künstler und Kritiker eines Dichters aus dem 16. Jahrhundert gedachten. Wer fliehen wollte, wurde von der Menge in die Flammen zurückgetrieben. Vorläufige Bilanz: 36 Tote, viele Verletzte. Organisiert hatte das Treffen der Schriftsteller Aziz Nesin, der in seiner Zeitung Aydinlik Auszüge aus Salman Rushdies „Satanischen Versen“ veröffentlicht hatte. Die Reaktionen türkischer Politiker auf Nesins Kampf für die Redefreiheit sind bezeichnend: Sie greifen Nesin an, der die Menge „provoziert“ habe. Den Mördern wird indirekt recht gegeben. Ähnliche Äußerungen sind von Margaret Thatcher gegenüber Rushdie überliefert.
Auch Salman Rushdie hat Nesin scharf kritisiert. Nesin habe die „Satanischen Verse“ als Kanonenfutter mißbraucht, behauptet Rushdie. Die Äußerung zeigt das Dilemma, in dem Rushdie steckt. Um nicht noch näher an den Abgrund zu rutschen, muß er sich gegen etwas verwahren, das er sich eigentlich zutiefst wünscht: die Verbreitung seines Romans, der ja nicht erst durch Khomeinis Morddrohung vor viereineinhalb Jahren zu einem der wichtigsten Bücher der Gegenwart wurde. Denn kein Roman hat die entscheidende Frage der Gegenwart klarer gestellt: Ist es möglich, daß verschiedene Kulturen zusammenleben? Und ist ein säkularisierter Islam denkbar?
Rushdie hat recht: Nesin benutzt die „Satanischen Verse“ für eine innertürkische Angelegenheit und hat dadurch nicht nur sein Leben, sondern auch das Rushdies und anderer in Gefahr gebracht. Hat Nesin darum weniger recht? Er stellt doch die gleichen Fragen wie Rushdies Roman. Es ist zum Verzweifeln.
Das Massaker zeigt vor allem eines: Der Fall Rushdie ist kein „Fall Rushdie“. Er war es noch nie. Khomeinis „Fatwa“ dient der Einschüchterung und Unterdrückung Zehntausender Intellektueller in den islamischen Ländern. Sie macht die gesamte islamische Welt zum Glacis fürs Machtkalkül der Fundamentalisten. Sie nutzt die Religion als Waffe gegen die Menschenrechte – denn es ist die Demokratie selbst, die in der „Fatwa“ als antiislamisch gebrandmarkt wird. Die „Fatwa“ ist das Vehikel für den Vormarsch dieses religiösen Faschismus. Intensivste Diplomatie gegenüber dem Iran, zuletzt auch Sanktionen, wären vonnöten, damit die „Fatwa“ zurückgezogen wird. Nichts wird geschehen. Nur der Fundamentalismus macht Fortschritte. Thierry Chervel
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