■ Das letzte Exemplar der Menschensauger
: Gelegenheitsvampir aus Leidenschaft

Whitby (taz) – Wenn der Glockenschlag des Kirchturms von Whitby im Norden von Yorkshire nach Sonnenuntergang das Signal gibt, befällt ihn das gewisse Kribbeln. Er weiß dann: Es ist Zeit! Wenig später sieht man den blassen Herrn mit schwarzem Cape, Zylinder und spitzen Eckzähnen aus der Haustüre huschen und in der Dunkelheit verschwinden. Erst wenn niemand mit ihm rechnet, wird er wieder auftauchen. Höllischen Spaß hat er dabei, seinen Opfern das Blut in den Adern erstarren zu lassen, wenn sie seine kühle Hand um ihren Nacken spüren. „Eine wunderschöne Nacht“ pflegt er dann zu wünschen und stellt sich mit einem galanten Diener vor: „Gestatten, Graf Dracula“.

Schon als der irische Autor Bram Stoker 1897, inspiriert von der mystischen Atmosphäre des kleinen Fischerorts, in Whitby seine Romanfigur schuf, hatte er den EinwohnerInnen versprochen: Dracula ist ein unsterbliches Erbe. Mit dem Rentner Rex Greenwood jedoch dürfte er bei dieser apokalyptischen Weissagung noch nicht gerechnet haben. Schon seit 30 Jahren ist der nämlich Gelegenheits-Dracula aus Leidenschaft. „Nennen sie es das Dr.- Jekyll-und-Mr.-Hyde-Syndrom“, sagt er. Dr. Jekyll, das ist der inzwischen pensionierte Ingenieur mit der grenzenlosen Begeisterung für den blutsaufenden Grafen, der „einfach einen Berufsausgleich suchte“. Mr. Hyde, das ist der gestylte Vampir, der nach dem wallenden Blut erschreckter TouristInnen dürstet, die er im Gegenzug fachkundig über die Spuren seines Vorbildes führt. Wenn Dracula heute durch die verwinkelten Gassen von Whitby schreitet, zieht er zwar keine Fledermäuse, dafür aber oft einen Schwarm gruselhungriger TouristInnen hinter sich her. Keiner, das versichert in Whitby jedeR, kennt Dracula so gut wie Greenwood. Sicher, ein wenig extrovertiert sei dieser Mann schon, und es sei schon merkwürdig, wie sich einer so mit einer Rolle identifizieren könne, aber letztlich sind sie doch alle stolz, den „letzten Dracula“ in ihrer Mitte zu haben. Der Mann mit dem menschlichen Alter von 69 Jahren ist ebenfalls überzeugt davon, der letzte seiner Zunft zu sein: „Warum sonst sollten Filmteams von Amerika bis Japan hierher, an diesen gottverlassenen Ort, kommen, um einen Vampir zu filmen?“ lacht er stolz und bleckt dabei seine langen Fangzähne. „Es liegt etwas Mystisches über Whitby“, schwärmt er. Wer sich unter dem Geschrei der Möwen auf den höchsten Punkt der Klippen begibt, über die sich das Dorf erstreckt, ahnt, was Greenwood damit meint, und er begreift, was Stokers Phantasie damals angeregt haben muß.

Manchmal jedoch schießen die Vampir-Touristen übers Ziel hinaus: „Es kamen tatsächlich Leute her, die nach Draculas Grab buddelten und den Friedhof verwüsteten“, schimpft Greenwood, der seine neugierige Gefolgschaft seitdem nicht mehr auf den Friedhof führt, sondern lieber ins Dorf ausweicht, wohin es sein Vorbild auf der Suche nach süßem Blut zog. Greenwood kann das gut nachempfinden: „Jeder weiß doch, wie es ist, Heißhunger auf ein Stück Schokolade zu haben. Und es gibt eben Leute, die kommen öfter auf den Geschmack von Blut. Ich muß gestehen, ich gehöre auch dazu.“ Der freundliche Herr kann dabei nichts Absonderliches finden. „Beobachten sie doch jeden Menschen, wenn er sich in den Finger gepiekt hat“, meint er, „sie tun alle dasselbe.“ Und während er schmatzend an seinem Daumen demonstriert, was er meint, klappert sein künstliches Vampir-Gebiß. „Das“, erklärt Greenwood stolz, „ist eine Sonderanfertigung, die mich 90 Pfund gekostet hat. Damit kann ich zwar kein Blut saugen, aber dafür richtig essen.“ Ungeheuer effektvoll sei das zuweilen. Doch auch mit diesen Edelzähnen, mit denen er so kraftvoll zubeißen kann, weiß Greenwood, ist ein Vampir nicht vor Niederlagen gefeit: „Als ich kürzlich auf einem Ball meiner Tanzpartnerin die Hand küssen wollte, forderte sie mich auf, sie lieber in ihren Hals zu beißen. Gerade als ich ihr den Gefallen tun wollte, bewegte sie den Kopf. Zu meinem Pech trug die Dame lange, scharfe Ohrringe, mit denen sie mir mein Gebiß rausriß ...“ Auch der Tanz der Vampire ist eben nicht mehr das, was er mal war. Antje Passenheim