: Mit Zwickel zurück zur Tradition?
Der designierte IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel kündigt „Konsolidierung“ an / Signale für eine konservative Wende / Keine Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) – Noch residiert Klaus Zwickel, der designierte erste Vorsitzende der IG Metall, im neunten Stock des glasverkleideten Bürohochhauses, in dem sich die Zentrale der mächtigsten DGB-Gewerkschaft eingemietet hat. Aber es besteht kein Zweifel daran, daß er in drei Monaten um zwei Stockwerke aufsteigen wird: in den Bürotrakt des über seine Aktienspekulationen gestürzten ehemaligen IGM-Chefs Franz Steinkühler. Schon drei Monate vor seiner für Anfang Oktober geplanten Wahl präsentiert sich Interimschef Zwickel als neue Führungsfigur der deutschen Gewerkschaftsbewegung.
In zahlreichen Interviews kündigte er nach den hektischen Wochen des ostdeutschen Streiks und der Steinkühler-Affaire eine „Konsolidierung“ der Gewerkschaft an. Und in den Betrieben, wie kürzlich bei VW in Kassel- Baunatal, versucht er den KollegInnen mit Grundsatzreferaten die Perspektiven der Nach-Steinkühler-Ära nahezubringen. Aber der Eindruck von Normalität und Kontinuität, der von all diesen Aktivitäten ausgehen soll, steht in auffälligem Gegensatz zur Verunsicherung vieler Funktionäre.
Tatsächlich gibt es eine durch Schweigen zugedeckte untergründige Spannung in der IG Metall. Was heißt „Konsolidierung“? Beinhaltet das einen Kurswechsel, eine Abkehr von der durch Steinkühler forcierten gesellschaftspolitischen Zukunftsdiskussion in der Gewerkschaft? Wird es weiterhin möglich sein, die ökologischen und sozialen Probleme der bundesdeutschen Industriegesellschaft auch dann zu diskutieren, wenn es ungemütlich wird für die Gewerkschaft? Die Antwort darauf ist unter Mitarbeitern der Frankfurter Zentrale uneinheitlich: Zwar glaubt niemand daran, daß die innergewerkschaftlichen Diskussionsspielräume unter Zwickel enger gezogen sein werden als unter dem dominanten Steinkühler. Aber zugleich wird befürchtet, daß Zwickels pragmatisches Politikverständnis eine schleichende Entpolitisierung an der Spitze der Gewerkschaft zur Folge haben könnte, ein allmähliches Zurückfallen in traditionelles gewerkschaftliches Interessenverständnis.
Die ersten öffentlichen Stellungnahmen des designierten Vorsitzenden sind wenig geeignet, derartige Befürchtungen zu zerstreuen. Sie zeigen, daß sein Denken sich am Machbaren orientiert, daß ihm die Konkurrenzfähigkeit des Industriestandorts Deutschland näherliegt als die Sorge um die sozialen und ökologischen Menscheitsprobleme. Er hat sich zwar kürzlich zum Vorsitzenden des Internationalen Metallarbeiterbundes wählen lassen – auch hier als Nachfolger Steinkühlers –, aber freimütig bekannte er, er nehme diese Aufgabe – anders als Steinkühler – eher aus Pflicht denn aus Neigung wahr.
Die Unsicherheiten einer gesellschafts- und gewerkschaftspolitischen Zukunftsdiskussion á la Steinkühler sind Zwickels Sache nicht. Er sagt zwar, die IG Metall müsse diese Diskussion fortsetzen, aber fügt gleichzeitig hinzu, nun solle sie in machbare Handlungskonzepte übersetzt werden. Beispiel dafür ist das von ihm selbst mitentwickelte Konzept „Tarifreform 2000“, in dem die Gewerkschaft mehr individuelle und kollektive Mitspracherechte für die Beschäftigten bei der Produktentwicklung, der Arbeits- und Arbeitszeitgestaltung fordert.
Dieses Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre entwickelte Reformkonzept versucht, qualitative (auch ökologische) Verbesserungen der Arbeit in den Mittelpunkt der Tarifpolitik zu rücken und die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse als Triebfeder für die gewerkschaftliche Tarifpolitik nutzbar zu machen. Es spiegelt mit seiner insgesamt „rot-grünen“ Orientierung den gesellschafts- und gewerkschaftspolitischen Diskussionsstand Ende der achtziger Jahre wider und ist damit ein durchaus respektables Stück moderner Reformpolitik. Aber eine überzeugende Antwort auf die explodierenden Krisenprozesse seit der Wende von 1989 ist es nicht.
Auf die Frage, wie die IG Metall tarifpolitisch auf die Massenarbeitslosigkeit in Ost und West reagieren wolle, antwortet Zwickel mit dem Verweis auf die überholte Arbeitsorganisation in deutschen Unternehmen. Es gelte, mit tarifpolitischen Mitteln eine Modernisierung der Arbeitsprozesse zu befördern, um letztlich den Industriestandort Deutschland trotz hoher Lohnkosten konkurrenzfähig zu halten. Im übrigen, so fügt er hinzu, müßten Industrie und Politik ihren Beitrag für die Überwindung der Arbeitslosigkeit leisten. Wenn es bei diesen Aussagen bleibt, werden dadurch eher konservative Akzente gesetzt: nach außen definieren sie die Gewerkschaften explizit als Juniorpartner des heimischen Kapitals in der Weltmarktkonkurrenz, nach innen signalisieren sie den Verzicht auf eine eigenständige Strategie der Solidarität mit den Arbeitslosen.
Rund zehn Jahre lang hatte die Gewerkschaft sich mit ihrer Politik der Arbeitszeitverkürzung für eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit stark gemacht. Im Frühjahr 1992 waren die letzten Stufen bis zum Erreichen der 35-Stunden- Woche vereinbart worden. Daß diese arbeitsmarktpolitisch wirksam war, wird inzwischen selbst von den Arbeitgebern nicht mehr bestritten. Umgekehrt rechnet die IG Metall vor, daß die von den Arbeitgebern geforderte Rückkehr zur 40-Stunden-Woche auf der Stelle 800.000 zusätzliche Arbeitslose produzieren würde.
Gründe für die Fortsetzung einer Politik der Arbeitsumverteilung gäbe es mehr als genug. Doch inzwischen sind die „materiellen Verteilungsspielräume“ (Zwickel), die in der Vergangenheit eine Sicherung der Realeinkommen plus Arbeitszeitverkürzung ermöglicht haben, kleiner und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ungünstiger geworden. Materielle Besitzstandwahrung und Arbeitsumverteilung sind nicht mehr gleichzeitig durchsetzbar.
Mit Blick auf die verunsicherte Stammklientel der Gewerkschaften hat sich Zwickel klar festgelegt: die gewerkschaftliche Lohnpolitik werde sich auf die Sicherung der realen Einkommen der Arbeitnehmer beschränken müssen. Allein dies berge massiven Konfliktstoff mit den Unternehmern, erfordere die Kampffähigkeit der Gewerkschaft. Im übrigen gelte es in Zukunft, die in dem tarifpolitischen Zukunftskonzept der IG Metall enthaltenen qualitativen Forderungen verstärkt anzugehen.
Ob dies als Antwort auf die ökonomische und soziale Krise ausreicht, wird derzeit im Apparat der IG Metall nicht offen diskutiert. Viele warten auf den zukünftigen zweiten Vorsitzenden Walter Riester, der sich schon als IGM-Bezirksleiter in Stuttgart als politisch denkender, kreativer Tarifpolitiker hervorgetan hat und dem auch in der Frankfurter Zentrale die Schlüsselressorts Organisation und Tarifpolitik zufallen werden.
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