■ Die „Kinkel-Initiative“ muß endlich umgesetzt werden: 23 Jahre sind genug
Während die Ungereimtheiten bei der Aufklärung des katastrophalen GSG-9-Einsatzes in Bad Kleinen sich zu einem undurchdringbaren Gestrüpp auswachsen, versuchen sich die im Amte verbliebenen Verantwortlichen in Schadensbegrenzung. Zwar beteuern die Bundesregierung und die ihr unterstehenden Sicherheitsapparate monoton, daß schnelle und rücksichtslose Aufklärung das Gebot der Stunde sei, doch ihr wichtigstes Ziel ist ein anderes. Nach den Abgängen von Seiters und von Stahls versuchen sie, sowohl weitere Rücktritte als auch die Auflösung der GSG 9 und des hypertrophen Anti-RAF-Referats im Bundeskriminalamt zu verhindern.
Gleichzeitig müssen sie – schon aus Sorge um ihre eigene Gesundheit – die auch von seiten der RAF gefürchtete bewaffnete Antwort auf den Tod von Wolfgang Grams abzuwenden suchen. Am deutlichsten demonstriert die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Dilemma. Mit Unterstützung ihres Vorgängers und Parteivorsitzenden Klaus Kinkel weigert sie sich, personelle oder administrative Konsequenzen zu ziehen; gleichzeitig kündigt sie eine Fortsetzung der „Kinkel-Initiative“ an.
Diese von ihr als „Politik der ausgestreckten Hand“ gegenüber der RAF charakterisierte Strategie sah in der Praxis allerdings so aus, daß die Justizbehörden die Gefangenen der RAF nicht frei-, sondern eher am ausgestreckten Arm verhungern ließen. Weder Kinkel noch Leutheusser haben bisher mit der notwendigen Entschlosssenheit auf die Bundesanwaltschaft und das BKA eingewirkt, die schon aus Gründen der Existenzsicherung den Krieg zwischen RAF und Staat am Leben halten wollen.
Gleichwohl sind jetzt, wenn den Worten Kinkels und Leutheussers schnell Taten folgen würden, die Chancen für ein Ende dieses 23 Jahre währenden Krieges so gut wie nie zuvor. Der Anti-Terror-Apparat, der sich in Bad Kleinen mit einem spektakulären Schlag gegen die RAF endlich einmal wieder legitimieren wollte, findet sich als Haufen von Dilettanten blamiert in einer äußerst schwachen Position. Die Rote Armee Fraktion ihrerseits hat den bewaffneten antiimperialistischen Kampf im globalen Rahmen schon vor über einem Jahr offiziell aufgegeben und sucht nach einer Möglichkeit, ihre Kader in überschaubaren Zeiträumen aus den Gefängnissen zu bekommen. Zwar hat die RAF in ihrer jüngsten Erklärung ihre Sympathisanten und FreundInnen aufgerufen, aktiv zu werden, doch sie hat dies in einer auffällig unbestimmten Art und Weise getan. Wenn die RAF zudem in die Debatte um die Nachfolge von Stahls eingreift, zeigt dies eine bislang nicht gekannte Hinwendung zur Realpolitik. Dies schließt nicht aus, daß Unterstützer oder FreundInnen der RAF diese langsame Abwendung von einem absurden Fundamentalismus mit einem Anschlag konterkarieren könnten, doch die RAF hat ihre angekündigte Anschlagspause nicht explizit widerrufen.
Seit der Deeskalationserklärung der RAF und besonders nach der Katastrophe von Bad Kleinen ist jetzt der Staat am Zug. Kinkel und Leutheusser müssen verhindern, daß der neue Bundesinnenminister und law and order-Fetischist Manfred Kanther weiterhin auf einen militärischen Sieg gegen die RAF setzt und so eine politische Lösung torpediert.
Warum sollen die Gefangenen der RAF nicht endlich die Möglichkeit bekommen, sich in einem Gefängnis zu treffen, um ihr antiquiertes Selbstverständnis einer kritischen Prüfung zu unterziehen? Warum kann Irmgard Möller, die seit 21 Jahren im Gefängnis sitzt, nicht entlassen werden? Es gäbe vielerlei zu tun. Neben der vollständigen Aufklärung der Geschehnisse in Bad Kleinen werden sich die Sicherheitspolitiker daran messen lassen müssen, ob sie jetzt ihre Chance nutzen oder einmal mehr verstreichen lassen. Michael Sontheimer
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