Rauschender Abschaum

■ Hautärzte lasen Gottfried Benn: Hochkultur am Sonntag auf der Spätschiene des Jugendradios Fritz! von ORB/SFB

„Also, da ist aber nix großartig dahinter“ – so schützt sie sich, die Frau Doktor. Aber das ist ungerecht. Denn, wenn auch mit hörbarem Entsetzen, liest sie doch Gedichte eines hochberühmten Kollegen. Dr. Gottfried Benn, Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Dichter, verschieden vor 37 Jahren. Kurz bevor unser sommerlich-blauer Abendhimmel sich ins Schwarz verflüchtigte, ging bei Fritz! um 22 Uhr der sonntägliche „Blue Moon“ auf. In seinem Licht entfaltete sich eine weder beschauliche noch betuliche kulturelle Sendung der neuen, lobenswerten Art: Zu Benns Ehren wurden normalsterbliche Kollegen mit dem alltäglichen Horror des Obdukteurs konfrontiert.

Sie lasen Benns Nahaufnahmen vom OP-Tisch, aus dem Huren- Hospital, rezitierten stockend, so wie wir's hören, von einsamen Backenzähnen toter Dirnen, den offenen Bäuchen von Wasserleichen und Bierfahrern mit zersplittertem Gehirn. Jaja, die Sachlichkeit der „Neuen Sachlichkeit“ ist manchmal eben unerträglich. Und „Welcome to my nightmare“ kommentiert ein Song... Doch wenn der Benn eine Leiche auf den Tisch bekam, dann obduzierte er halt. Und mußte schreiben, was er sah: So also war der Mensch. Darüber schweigen wollte er nicht, denn: „Wer redet, ist nicht tot.“

Und da er ihn schon mal ständig vor der Nase hatte, interessierte den Doktor Benn die „Ruine Mensch“, der globale Abschaum, der Bodensatz der Masse, Randgruppen der frühmodernen Gesellschaft... Ja, kalt aber ehrlich stellte Benn dem Leben „Fragen, Fragen“ und diagnostizierte bitter, daß es vor allem Halbes gibt: „Teils, teils – das Ganze.“ Diese poetische Botschaft des „Big Benn“ wurde in der prozeßhaften Konzeption der „Blue Moon“- Sendung zum spannenden Stück Hörerlebnis. Hier gab es Worte, die ohne „Vorsicht, Kunst!“-Gebaren mit Rauschen, Räuspern und Kopfschütteln („Mann- o-Mann-o-Mann“) vorgetragen wurden. Als einziger Kommentar verblieb, mit goldenem Händchen ausgewählt, die Musik. Sie war ein sehr beredter Soundtrack, der im organischen Rhythmus „Verdauungspausen“ bot: mal rockig, mal meditativ.

Bewußt wurde erst Benns Lebensgefühl vorgestellt – dann kamen die Fakten. Und kein didaktischer Kommentar verwischte die Lesespuren. Spätestens jetzt sollten Deutschlehrer es lernen: Keine Stunde mehr ohne Ghettoblaster! Denn bei Fritz! konnten auch Lyrik-Neulinge erleben, daß es Dichtung nicht nur „abgehoben“ gibt. Und daß selbst ein in der Schule trocken vermittelter „Lehrstoff“ wie Benn den Zunder liefern konnte, der Rock und Pop anfeuert. GeHa