: „Was grau und kaputt ist, gehört uns“
Serie: Umland-Utopien (neunte Folge) / In Schmerwitz bauen sich über einhundert ehemalige Abhängige und dreißig Kinder auf einem riesigen Gut ein neues Leben ohne Drogen und Gewalt auf ■ Von Gerd Nowakowski
Ingo Warnke macht sich nichts vor. „Das ist Arbeit für eine Generation“, glaubt der kräftige Mitfünfziger, der vor zweiundzwanzig Jahren Synanon gründete. Im ersten Stock des Schmerwitzer Schlosses, das zu DDR-Zeiten eine Kampfgruppen-Schule war, ist vorübergehend die Hofverwaltung von Synanon untergebracht. Draußen auf dem langen Gang mit den vielen Türen grüßt mit der stumpf- gelben Farbe noch die Ödnis der DDR-Bürokratie, drinnen im Büro des landwirtschaftlichen Leiters wird die Zukunft geplant. Marcus Sperlich, gelernter Landwirtschaftsmeister und Fachmann für den biologisch-dynamischen Anbau, widerspricht Warnke nicht; er weiß aber zugleich, daß die Umstellung des Gutes schnell bewältigt werden muß; sehr schnell, soll das gigantische Projekt nicht von den Schulden erdrückt werden. Daß Einkünfte schnell her müssen, weiß vor allem Synanon- Geschäftsführer Ralph-Dieter Wilk. Er, der anfänglich wegen der Risiken gegen das Projekt war, hat mit spürbarer Ironie seine Rolle als finanzieller Bedenkenträger kultiviert.
Vor eineinhalb Jahren kam Synanon nach Schmerwitz nahe Belzig, etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Berlin. Über 1.300 Hektar Land eines DDR-Guts erwarb Synanon nach zähen Verhandlungen mit der Treuhand – finanziert durch den Verkauf der Berliner Zentrale in der Bernburger Straße. Durch die schikanöse Behandlung seitens der Treuhand wurde das Gut sehr viel teurer als kalkuliert: Wollte die Treuhand anfänglich 1,3 Millionen Mark haben, forderte sie später über 6 Millionen Mark.
Synanon kaufte, auch wenn das „irrsinnig viel Investitionskraft weggenommen hat“, wie Geschäftsführer Wilk bitter anmerkt. Übernommen werden mußten zudem marode Betriebsteile in zwei anderen Dörfern, zahlreiche Wohnhäuser mit Mietern und siebzig Beschäftigte des abgewickelten Gutes – auch dies finanzielle Hypotheken.
Doch die Härtnäckigkeit von Synanon hatte ihren Grund: Weil in Brandenburg einzig auf dem Gut Schmerwitz Saatgut produziert wurde, sind die Böden nicht mit Pestiziden geschädigt. Das erleichtert es, auf biologisch-dynamischen Landbau umzustellen. Vor allem wird die anvisierte Demeter- Qualität der Erzeugnisse in viel kürzerer Zeit erreicht – sprich, schneller Geld verdient.
Mag die Uhr am Turm des Schmerwitzer Schlosses auch längst die Zeiger verloren haben , bei Synanon ist die Zeit nicht stehengeblieben. „Lernen, verantwortlich mit uns und der Umwelt umzugehen“, so umreißt Ralph- Dieter Wilk die Philosophie des Projekts Schmerwitz. Gegenwärtig leben und arbeiten ständig über 100 Erwachsene und 32 Kinder in Schmerwitz. Irgendwann sollen es fünfhundert Menschen sein. Die Bewohner sind bunt gemischt: Zwanzigjährige leben zusammen mit über Fünfzigjährigen, langjährige Mitglieder mit Neuankömmlingen. Die Bewohner – zwei Drittel sind männlich – führen ein Leben ohne Eigentum und mit gemeinsamer Kasse. Die ehemaligen Abhängigen unterwerfen sich zwei strikten Regeln: keine Gewalt und keine Drogen.
Jede/r Abhängige, so die Synanon-Philosophie, darf in die Berliner Synanon-Häuser oder nach Schmerwitz kommen – abgewiesen wird keiner. War es bereits vorher eng genug, so hat sich dies seit dem Mauerfall noch verschärft. Man werde „regelrecht überrannt“, erzählt Wilk. Auch wegen des Platzmangels verkaufte man die gerade neu errichtete Zentrale in der City für 27 Millionen Mark und erwarb dafür Gut Schmerwitz sowie ein großes Industriegelände in Berlin-Lichtenberg.
30 Prozent werden zu langjährigen Mitgliedern
Zweitausend Menschen klopfen jährlich an die Türen von Synanon. Anders als früher, wo vornehmlich Fixer kamen, sind unter den Hilfesuchenden nun viele alkoholabhängige junge Menschen. Das spüre man beim gemeinsamen Leben. „Alkoholiker sind meist die zuverlässigeren Arbeiter, oft mit einer Ausbildung“, hat Ingo Warnke festgestellt.
Viele Abhängige verschwinden in der zweiwöchigen Probezeit, weil sie den körperlichen Entzug nicht durchhalten. Andere bringen erst beim dritten Versuch die Kraft auf, durchzuhalten und dabeizubleiben. Psychologen und Therapeuten gibt es nicht, jeder soll sich bei der Arbeit bewähren und dabei neues Selbstvertrauen entwickeln. „Normal leben in suchtmittelfreier Umgebung“, heißt das im Synanon-Sprachstil. Statistiken gibt es nicht, doch Synanon-Veteranen schätzen, daß rund 30 Prozent der Abhängigen zu langjährigen Mitgliedern werden. Es sind gerade die harte Entzugszeit und die fehlenden Therapieangebote, die Synanon immer wieder Kritik einbrachten.
Synanon ist in den letzten zwanzig Jahren mit inzwischen zehn Betrieben – vom Umzugsunternehmen bis zum Verlag – immens gewachsen, es hat auch große Veränderungen durchgemacht. Der Vorwurf von außen, Synanon verhindere durch seine rigide innere Struktur, daß die Abhängigen selbständig werden, zwinge sie durch die materielle Abhängigkeit zum Bleiben und verdamme Aussteiger, wird höchstens für die Anfangszeit gelten gelassen.
Das Ziel sei heute, den „Leuten beste Bedingungen für ein Leben nach Synanon zu bieten“, sagt Wilk, der zusammen mit Warnke vor einigen Jahren das Bundesverdienstkreuz erhielt. Während der Synanon-Zeit werden die zumeist immens hohen Schulden der Süchtigen abgetragen; die Ex-Drogis erhalten außerdem eine qualifizierte Ausbildung und erwerben Berufserfahrung, damit sie sich später selbständig machen können.
Anders als in den kargen Anfangszeiten, wo kein Geld in der Kasse war, werden für jene, die mehr als drei Jahre bei Synanon bleiben, auch Rentenbeiträge gezahlt. Wer nach etlichen Jahren aussteige, erhalte zudem eine finanzielle Starthilfe für ein eigenständiges Leben. Daß Synanon die ehemaligen Abhängigen unzulässig binde, kann Ralph-Dieter Wilk nicht bestätigen: „Unser Problem ist nicht, daß wir die Leute zu lange festhalten, sondern eher, daß die guten Leute zu früh weggehen.“ Die große Welle von Abhängigen, die zu Synanon kämen, gäben dem Projekt „manchmal fast den Charakter eines Obdachlosenasyls“ (Wilk). Synanon laufe dadurch Gefahr, daß die „Stammgruppe“ der länger dort lebenden Mitglieder zu klein werde, sorgt sich Wilk.
Den Besucher beeindrucken die weiten, mit Korn bewachsenen Felder und die große Schafherde. Viele Kilometer von Hecken sind gepflanzt worden. Sie verbessern die Bio-Balance, weil sie Kleintiere anziehen und die Felderosion stoppen. Doch für Marcus Sperlich, der vor zwanzig Jahren als Fixer zu Synanon kam, sind andere Dinge vordringlich.
Kälbersterblichkeit sank auf zwei Prozent
„Überall sind wir erst am Anfang“, sagt er. Endlich ist ein Schweinestall für die 16 Sauen fertig, die vor kurzem hundert rosige Ferkel geworfen haben. Sie werden zur Weiterzucht der seltenen Rasse verkauft. Gebaut wird an einer Fahrzeugwaschanlage mit Ölabscheider, damit das Erdreich nicht verdreckt wird. Nahebei in einer Halle rühren ehemalige Drogenabhängige in mannshohen Bottichen von Hand mit großen, von der Decke hängenden Klöppeln eine biologisch-dynamische Düngerbrühe. Maschinen gibt es dafür nicht, bedauert Marcus Sperlich: Kein Projekt in Deutschland war bislang so groß, daß dafür eine Notwendigkeit bestand. Daneben stehen die noch verpackten Einzelteile der gerade gelieferten Saatgutreinigungsanlage. Und in einer riesigen, langgestreckten Halle ist eine neue Futtermischanlage installiert, die mit den hintereinandergereihten Tanks wohl nahezu hundert Meter lang ist.
Im nahegelegenen Hagelberg hat jetzt der Bau einer Stallanlage für 300 Kühe begonnen. „Das wird Deutschlands größte und modernste Vorzugsmilchproduktion“, erzählt der betont nüchtern und sachlich wirkende Geschäftsführer Wilk. Der Vierzigjährige wirkt dabei endlich einmal stolz. Schon derzeit gibt es fast 600 Kühe und Jungtiere. Sie sind allerdings noch auf drei Dörfer mit völlig verrotteten Ställen verteilt. Die Kälbersterblichkeit von 30 Prozent in DDR-Zeiten habe man bereits auf zwei Prozent gedrückt, erzählt Marcus Sperlich bei der Inspektion der Ställe. Die jungen Tiere sind nicht festgebunden, stehen auf Stroh und nicht auf Eisenrosten und können in den Boxen umherlaufen.
Unendlich viel gäbe es zu tun, doch vor allem fehlt es an Wohnraum. Da hilft auch der fertige Dorfentwicklungsplan vorerst nicht weiter. Denn viele Häuser in Schmerwitz gehören wohl Synanon, doch leben Mieter drin. „Wir kündigen niemanden, weil wir schließlich mit diesen Menschen zusammenleben wollen“, sagt Sperlich.
Schmuck anzusehen ist das fast sanierte künftige Kinderhaus. In der ehemaligen Broilerzuchtstation ist neben der großen Töpferei auch Wohnraum eingerichtet worden: dicht bei dicht stehen die Etagenbetten; bis zu sieben Menschen schlafen in einem Zimmer. Auch das ist ein Ergebnis der Philosophie der offenen Tür. Dennoch ein unmöglicher Zustand, ist Marcus Sperlich überzeugt, dessen aus Bremen stammende Freundin gerade zu Besuch ist. Spätestens nach drei Jahren brauche jedes Mitglied ein eigenes Zimmer, um Gäste zu haben oder um Freund oder Freundin übernachten lassen zu können, stimmen alle überein.
Schon lebt man im Dorf gemischt, Haustür an Haustür mit den eingeborenen Schmerwitzern. Doch bei der Arbeit sind die Gruppen zumeist noch getrennt. Verhehlt wird von Synanon-Geschäftsführer Wilk nicht, daß es anfänglich Vorbehalte und Ängste gegenüber Synanon gegeben hat. Ein Problem aber sei dies nicht gewesen, wohl auch, weil Synanon Arbeitsplätze bot und siebzig Gutsmitarbeiter für zwei jahre auf ABM-Basis übernahm.
Gegenwärtig aber ist die Stimmung angespannt. Synanon wird ab diesem Monat, so wurde es mit der Treuhand vertraglich vereinbart, nur noch die Hälfte der alten Gutsarbeiter weiterbeschäftigen. „Das ist wirtschaftlich einfach notwendig, ist aber dennoch eine ekelhafte Situation“, gibt Marcus Sperlich zu.
Die Distanz ist auch in der Pause zu bemerken. Im großen Haus unter den Pappeln, wo die Küche und der Speisesaal untergebracht sind, sitzen die alten Schmerwitzer nicht unter den Synanon-Leuten, sondern bleiben unter sich in einem Nebenraum. Zehn große runde Tische bestimmen den großen Speisesaal und bieten Platz für hundert Menschen. Hier trifft man sich außerdem für das dreimal wöchentlich stattfindende Plenum. Mit einem eingeübten Ritual beginnt das Essen. Einen Moment herrscht völlige Stille, bis Marcus Sperlich „Guten Appetit“ wünscht.
Beim Gang durch die heruntergekommenen Ställe und durch die maroden Dörfer hat Geschäftsführer Wilk vielfach Gelegenheit, über die finanziellen Risiken und ungeheuren Aufgaben zu klagen, denen sich Synanon gegenübersieht. Welche Gebäude zu Synanon gehören, erklärt er auf einfache Weise: „Wenn das Haus grau ist, das Dach kaputt und die Fenster nicht gestrichen sind, dann gehört es zu uns.“ Fast scheint es dabei, als gefalle er sich in der Rolle des beständigen Warners. Vielleicht auch deshalb, weil sich der Macher Wilk am wohlsten fühlt, wenn es unendlich viel zu tun gibt.
Die Serie wird am nächsten Freitag fortgesetzt.
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