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Die „Sparschweine der Nation“ im Streik

■ Protestwelle bei Zivildienstleistenden gegen Bonner Sparpaket / Rhein-Main-Demonstration in Frankfurt mit mehreren hundert Teilnehmern

Frankfurt/Main (taz) – Sie möchten nicht die „Sparschweine der Nation“ werden, erklärte der Sprecher der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden (SOdZDL), Klemens Böhm, stellvertretend für die „Zivis“ aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet, die sich gestern auf dem Römerberg in Frankfurt/Main zur Protestdemonstration versammelt hatten. Die Zivildienstleistenden, so Klemens Böhm, seien nämlich von den im Rahmen des Solidarpaktes beschlossenen Einsparungen „von allen Bevölkerungsgruppen am meisten betroffen“: Das Entlassungsgeld wurde von 2.500 DM auf 1.800 DM gekürzt, das Verpflegungsgeld für arbeitsfreie Tage auf die Hälfte zusammengestrichen – und weitere „drastische Kürzungen des Soldes der Zivildienstleistenden“ seien bereits im Gespräch.

„Die Streichungen im Rahmen des (Un)Solidarpaktes drängen uns an den Rand des Existenzminimums“, sagt auch Matthias Kittmann, Pressesprecher der SOdZDL in Frankfurt/Main. Nahezu um 20 Prozent Gehaltskürzung in einem laufenden Arbeitsverhältnis – „das machen wir nicht länger mit“. Bereits in der vergangenen Woche kam es zu Protestaktionen der Zivis in Stuttgart, Kassel, Berlin, Bonn und Heidelberg. Und nach Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet sollen noch andere Regionen in den Warnstreik treten.

Auf dem Rücken von Kranken und Behinderten wollen die Zivis ihre Kampfmaßnahmen allerdings nicht austragen. Notdienste gewährleisteten gestern die Grundversorgung der zu betreuenden Personen während des Streiktages. Und auch die meisten Dienststellen der Zivildienstleistenden spielten mit, denn gerade den mobilen sozialen Hilfsdiensten und den Umweltschutzdienststellen wurden von der Bundesregierung die Zuschüsse für die Bereitstellung von Zivi-Plätzen gestrichen.

Für die SOdZDL ist das der Versuch, die „Zivis ausschließlich in Arbeitsbereiche wie Krankenhäuser und Altersheime zu drängen, in denen sie für einen Minimallohn das soziale Netz aufrechterhalten sollen, während dort gleichzeitig feste Arbeitsplätze vernichtet werden.

Einen ersten Erfolg haben die Protestaktionen bereits gezeitigt. Gegen die Kürzung ihres Entlassungsgeldes klagenden Ersatzdienstleistenden will die Gewerkschaft ÖTV künftig Rechtsschutz gewähren. Die ÖTV hält die Kürzungen für „rechtswidrig“ und fordert alle gewerkschaftlich organisierten Zivis auf, innerhalb der vorgeschriebenen Monatsfrist Widerspruch gegen die Kürzung der Entlassungsgelder einzulegen. Bei der SOdZDL wird zur Zeit auch überlegt, Verfassungsbeschwerde gegen das gesamte „Streichkonzert“ einzureichen, weil damit gegen die Gleichheitsgarantie im Grundgesetz (Artikel 3) verstoßen werde. Denn wer Anfang April 1992 seinen Wehrdienst begonnen habe, wurde zum 31. März 1993 mit einem Entlassungsgeld von 2.500 DM verabschiedet. Wer dagegen zum selben Zeitpunkt seinen Zivildienst angetreten hat, und drei Monate länger dienen mußte, bekam zum 30. Juni 1993 nur 1.800 DM: „Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.“

Weil Zivis kein Streikrecht haben, rechnet die SOdZDL mit Repressionsmaßnahmen des Bundesamtes für den Zivildienst (BAZ) gegen die Teilnehmer an den Demonstrationen und Protestaktionen – „von Geldbußen bis hin zum Nachdienen eines Streiktages“. Daß sich gestern in Frankfurt dennoch mehrere hundert Zivildienstleistende an der Demonstration beteiligten, sei deshalb ein „großer Erfolg“ und ein „Zeichen für die Entschlossenheit der Zivildienstleistenden, den Kampf fortzusetzen“. Klaus-Peter Klingelschmitt

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