: Sexueller Mißbrauch — „hineingefragt“
■ Oldenburger Eltern unter schwerem Vorwurf verhaftet und freigelassen: Wurde die belastende Aussage in das Kind „hineingefragt“?
Am 29. Januar dieses Jahres wurde Uwe P. verhaftet. Begründung: Zusammen mit seiner Freundin S. soll er seinen Sohn sexuell mißbraucht haben. Auch die Freundin wird verhaftet, ihre drei Kinder werden in ein Heim gebracht. „Aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe“ wird sofort beantragt, ihr das Sorgerrecht zu entziehen. In der Beratungsstelle „Benjamin“ in Oldenburg, die sich speziell mit dem Thema „sexueller Mißbrauch“ befaßt, war in einem über ein Jahr laufenden Beratungsgespräch deutlich geworden, daß das achtjährige Kind des Mannes aus erster Ehe, Jo, „schwerwiegenden Übergriffen sexueller Gewalt in der Familie ausgesetzt“ gewesen sein mußte. (Namen geändert, Red.) Mit daran beteiligt nach den Angaben des Jungen: die drei Kinder, mit denen sein geschiedener Vater und dessen Freundin zusammen leben.
Die Kripo durchsucht die Wohnung der Familie, die Kinder werden vernommen, drei Tage später werden die Haftbefehle aufgehoben, dringender Tatverdacht besteht nicht mehr. Vier Wochen später wird das Verfahren eingestellt.
An dem Vorfall läßt sich demonstrieren, wie schwierig Aufklärung bei einem derart emotional besetzen und komplizierten Thema ist, für das es meist neben den subjektiv betroffenen und beteiligten Erwachsenen keine „Zeugen“ gibt und Aussagen von Kindern vielfach entscheidend sein müssen. Deshalb soll hier über offenbar zweifelhafte Mechanismen, die die Betroffenen in einen schlimmen Verdacht gebracht haben, berichtet werden.
Wie man darüber spricht...
Über intime Dinge sprechen Kinder oft nicht direkt. Bei dem Thema „sexueller Mißbrauch“ geht es daher immer wieder um die Frage: Welchen Andeutungen, Bildern oder anderen Auffälligkeiten könnten man Verdachtsmomente entnehmen? Gerade bei Eltern, die sich mit den üblichen Vorwürfen getrennt haben, ist das Thema besonders heikel. „Wir haben uns getrennt, weil mein Mann absolut egoistisch und rücksichtslos war...“, hat im Falle des Jungen Jo seine Mutter der Kripo zu Protokoll gegeben. Der Schluß, daß auch die Betreuung des gemeinsamen Kindes an den Tagen, an denen es beim Vater war, ein Problem sein muß, drängt sich auf. Irgendwann, so die Mutter, äußerte der Junge einmal Angst, allein unter der Dusche zu stehen, weil — nichtanwesende - seinen Pimmel anfassen wollten — das Kindermädchen, der Vater, Spielfreunde. Die Mutter ist aufgeschreckt, achtet besonders auf ähnliche Äußerungen, findet neue Hinweise. Die Mutter geht mit dem Jungen zur Beratungsstelle Benjamin: „Ich wollte auch wissen, welche Rolle Jos Vater in der Sache spielt...“ Sie stößt auf einen Mitarbeiter, der gerade eine Sonderausbildung über sexuellen Mißbrauch macht, an seiner Diplomarbeit zum Thema „Jungen“ sitzt und eine entsprechende Promotion plant.
Nach mehreren Anläufen eines Betreuers der Beratungsstelle, langen Gesprächen und durch „Spielen“ mit anatomisch realistischen Puppen unterstützten Situationen hat der Mitarbeiter der Beratungsstelle die Sache rund: Im Protokoll seiner Gespräche mit dem Jungen war mithilfe der Puppen herausgekommen, daß es immer wieder zu Szenen von „Pimmel anfassen“, „Pimmel in den Po stecken“ und ähnlichem zwischen den Erwachsenen und den insgesamt dann vier Kindern in der Wohnung gekommen war. Dazu kommt, daß das Kind erzählt, hat, der Vater habe mit „Entführung“ gedroht, wenn er irgendetwas erzähle. „Ich nehme diese Drohungen sehr ernst, weil ich meinen geschiedenen Mann gut kenne“, sagt die Mutter dazu der Kripo. Und dann kommt noch eine Verletzung am Hoden des Jungen dazu, das Maß ist voll, die Mutter stellt Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft begründet den Haftbefehl mit der „Charakteristik der Tat“ und mit dem „langen Zeitraum der durchgeführten Tathandlungen“, der Vater ein potentielle Wiederholungstäter also. Zudem hatte ja der Sohn von Drohungen seines Vaters erzählt, die Mutter hatte die Kripo „auf den hohen Lebensstandard der Beschuldigten“ hingewiesen, der „zum Teil durch den Verlauf von Kinderpornovideocassetten“ mitfinanziert sein könnte. „Hierfür könnten auch die angeführten Urlaubsaufenthalte in Holland sprechen“, schreibt die Staatsanwaltschaft in den Durchsuchungsantrag.
Verdächtigt, verhaftet..
Der Vater wird in seiner Wohnung von der Verhaftung überrascht. „Die eingesetzten Kräfte wurden verteilt und alle Zimmer (einschließlich Kellerräume) nahezu gleichzeitig durchsucht“, steht im Polizeibericht. Acht Kripo-Leute und zwei Vertreter des Jugendamtes finden zwei Videocasseten „im Regal liegend“, und „1 Kleinbildkamera mit eingelegtem Film“ und beschlagnahmt beide — normale Familienbilder, nichts Verbotenes drauf.
Jo wird von einer Staatsanwältin befragt — Er wiedeholt teilweise das, was er bei der Beratungsstelle Benjamin mit den anatomischen Puppen gespielt hatte, sagt teilweilse auch anderes. Die Staatsanwaltschaft bleibt insgesamt bei dem Vorwurf.
Die Nachbarn im Doppelhaus (“durch die räumliche Nähe und die gemeinschaftliche Nutzung unserer Gärten durch die Kinder ist im Laufe der letzten Jahre eine vertrauensvolle, freundschaftliche Verbindung zwischen Kindern und Erwachsenen entstanden...“) erklären, sie seien verständnislos gegenüber den Vorwürfen: die beiden Eltern hätten immer „Respekt gegenüber den Kinderpersönlichkeiten“ gezeigt. Eine alte Freundin aus gemeinsamen feministischen Zeiten schreibt der Staatsanwaltschaft, sie halte aus ihrer Kenntnis der nun so beschuldigten Frau S. die Vorwürfe für „absolut unhaltbar“. Gemeinsam hätten beide „in all den Jahren viele feministische Seminare besucht“ und auch das Buch „Väter als Täter“ gelesen und engagiert debattiert... Ein etwa gleichaltriger Junge, Sohn der S., wird vernommen: Nach den Schilderungen des Jo hätte er einbezogen sein müssen in die „Kinderpornografie“, er weiß aber von gar nichts.
Eine Gutachterin vom Institut für Gerichtspsychologie in Bochum versuchte dann in einem dritte Anlauf, den Wahrheitsgehalt der Aussagen des 8jährigen Jungen zu erkunden, den sie — zwei Wochen nach der Freilassung des Vaters - noch im Heim besuchen mußte. Ihr fiel auf: Der Junge „hat niemals spontan und von sich aus über angebliche sexuelle Erlebnisse mit dem Vater berichtet, sondern lediglich beim Spiel mit anatomisch korrekten Puppen und auf Fragen und Interpretationen des Betreuers (der Beratungsstelle Benjamin) reagiert“. Erwartungen mußten so an das Kind herangetragen werden, die Geschichten, die der Junge erzählte, waren aber in sich unstimmig und widersprachen in Details früheren Angaben über das Verhalten beteiligter Personen, so daß bei der Gutachterin „Bedenken an der Erlebnisbezogenheit der Aussagen“ entstanden. Der Junge bezog sich hin und wieder ausdrücklich auf die Gespräche mit dem Betreuer.
.. freigelassen, rehabilitiert?
Die anatomisch korrekten Puppen animieren zum Ausprobieren. Deshalb dürften, so die Gutachterin, solche Puppen nicht herangezogen werden, „um angebliche Erlebnisse zu rekonstruieren“. Da der Betreuer in der Beratungsstelle - auch unter dem Eindruck der geschiedenen Mutter — fest an den Verdacht glaubte, ließ er den Jungen nicht mehr heraus aus dahingesprochenen Halbsätzen — nur wenn er konsistente Geschichten im Sinne des Befragers konstrierte, konnte er sich „den Vorhalten der Erwachsenen entziehen“. Die Gutachterin kommt zu dem Ergebnis, daß „erhebliche Verdachtsmomente“ dafür bestehen, daß „die fraglichen Aussagen in das Kind 'hineingefragt' wurden, wobei sein spielerisches Hantieren mit den anatomisch korrekt geformten Puppen dafür der Ausgangspunkt war.“
Zwei Wochen nach diesem Gutachten stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen förmlich ein. Wieder-Gut-Machung für die Belastungen, denen die Erwachsenen und die Kinder ausgesetzt waren, kann es nie geben.
Klaus Wolschner
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