: Die multikulturelle Gesellschaft ist kein Garten Eden
■ Helga Trüpel: Multikultur bedeutet, bewußt Konflikte einzugehen / Für viele ist „Multikulti“ eine hohle Phrase
Seit anderthalb Jahren ist Helga Trüpel Senatorin für Kultur und Ausländerintegration. Im Gespräch mit der taz erklärte sie die Vorteile ihres Ressorts (vgl. taz v. 6.7.1993) Im heutigen zweiten Teil des Gesprächs geht es um den Begriff „Multikultur“.
taz: Was bedeutet für Sie „mul
tikulturelle Gesellschaft?“
Helga Trüpel: Von diesem Begriff gibt es ungeheuer viele Facetten. Bei meinem Besuch in Gröpelingen haben Türken und Evangelische Gemeinde gesagt: „Multikulti ist out. Das ist keine positive Utopie mehr.“ In Gröpelingen ist dieser Begriff zur hoh
len Phrase verkommen. Nach den Mordanschlägen, den täglichen Übergriffen und Pöbeleien muß man das für die Erfahrungen der Türken einfach ernst nehmen. Aber auch für die Deutschen muß man akzeptieren, daß Multikultur im Zusammenleben nicht mehr positiv besetzt ist,
nach all dem, was sie jahrelang aufzubauen versucht haben.
In einer ganz anderen, eher politisch strategischen Debatte, die ich sehr wichtig finde, steht im Mittelpunkt, ob es um Multikulturalismus oder um Pluralismus geht. In den USA gibt es das Problem, daß eine „linke“ Szene, die sozusagen „links-ethnisch“ motiviert ist, auf Separatismus setzt. Wenn alle Randgruppen, also egal ob Latinos, Asiaten, Schwarze oder Schwule und Lesben - ihr Anderssein so betonen, gibt es eigentlich keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft oder eine gemeinsame Identität mehr. Es wäre sehr gefährlich, wenn auch bei uns jede Gruppe ihr Ureigenstes betont und das in einen neuen Separatismus führte. Daß die Zuwanderer also keine Deutschen sein wollen, sondern deutsche Türken, deutsche Kroaten, deutsche Portugiesen usw.. Wenn sie dagegen ihre eigene Kultur pflegen, sich aber auch als Deutsche in diesem pluralistischen Land verstehen, dann habe ich keine Probleme, das als eine multikulturelle Gesellschaft zu begreifen.
Wenn Migranten Deutsche werden, ihre Herkunft nicht verleugnen und eine neue multikulturelle oder Doppelstaatsidentität kriegen und Deutsche das auch richtig finden, dann ist das eine gelungene Form von Multikultur.
Das ist aber doch eine sehr progressive Vorstellung. Denn konservative Kräfte wollen genau das nicht. Die wollen Deutsches in diesem Lande immer mehr bewahren und die Ausländer - auch durch die Ausländergesetze - in sehr unsicheren Lebensverhältnissen halten, in denen weitgehender staatlicher Einfluß immer möglich bleibt.
Meine Position ist da anders. Wir dürfen aber auch nicht nur diesen linken Selbsthaß kultivieren, wie er einem bei linken Veranstaltungen häufig begegnet. Nicht immer dieses „die Deutschen an sich sind böse“ und die Türken sind ganz toll. Das ist der gleiche Nationalismus. Wenn linke, deutsche Jugendliche sagen, wie kannst du von dem Türken verlangen, daß er Deutscher wird, stärken sie damit den türkischen Nationalismus und das ist bei den Türken genau so problematisch wie bei den Deutschen - ohne türkische und deutsche Geschichte jetzt analogisieren zu wollen. Aber bei aller Sensibilität und dem Nachdenken über deutsche Geschichte darf es nicht so weit gehen, daß wir uns immer nur selber geißeln. Und es darf auch nicht so weit gehen, daß man auch das verdammt, was wir selber versucht haben, in diesem Land zu verändern oder Einfluß zu nehmen. Denn es gibt ja durchaus positive, demokratische Entwicklungen. Man muß auch den Rechten entgegentreten, die dieses Deutsche von andern wieder säuberlich trennen wollen.
Man muß sich eher auf die demokratischen Traditionen beziehen. Demokratisch bedeutet dann nicht nur eine „Volksgemeinschaft, in der alle gleich sein müssen“, sondern eine Gesellschaft, in der es Interessenkonflikte gibt.
Wie kann man denn politisch in solch eine Gesellschaft hineinwirken?
Bremer Bürger haben in den letzten Jahren ganz unterschiedliche Erfahrungen mit ausländischen Mitbürgern gemacht. So wird mir immer wieder eine Geschichte aus dem Bürgerzentrum Vahr erzählt, die bereits zehn Jahre her ist. Damals hatten Türken dort einen großen Raum gemietet. Und die BremerInnen, die das bewußt ausländerfreundlich unterstützt haben, waren wie vom Donner gerührt, als sie auf das Fest kamen und dort gerade eine Beschneidung vorgenommen wurde. Und das ist natürlich auch eine Konfrontation mit Fremdheit: daß die in ihrem sozialdemokratischen Bürgerzentrum „sowas“ machten.... Trotzdem: sie haben sich damit auseinandergesetzt. Und solange dies im Rahmen einer Koexistenz stattfindet, man es also weder wegbeißen muß, noch die anderen versuchen, einen zu missionieren, ist das auch in Ordnung.
Gibt es denn genau solche Entwicklungen?
Gerade die Moschee-Vereine verengen sich immer mehr in diese fundamentalistische Richtung. Mädchen dürfen nicht mehr zum Sportunterricht und der soziale Druck verstärkt sich ungeheuer: 'Was, Ihre Tochter geht noch zum Schwimmunterricht?' Das paßt in eine weltoffenes Land nicht. Privat können sie tun, was sie wollen. Wir haben schließlich die Trennung von Kirche und Staat. Aber es greift eben immer weiter um sich. Und gerade in die Schulen in Gröpelingen kommen immer wieder türkische Mütter, die weinend um Hilfe bitten, weil sie den Druck von ihrem Mann oder den Nachbarn nicht aushalten. Und viele Mütter wollen, daß ihre Töchter auch in Deutschland leben und an Unterricht und Ausflügen teilnehmen können. Und da gibt es eben Wertekonflikte, besonders zwischen Frauenemanzipation und strenger moslemischer Religion. Aus diesem Konflikt kann man sich nicht herausstehlen. Da bin ich auf Seiten der Frauenemanzipation und unseren europäischen Werten der Aufklärung und man darf das innenpolitisch nicht so wenden, daß man sagt, die sind so anders, die dürfen hier nicht sein.
Man muß also an die Männer heran.
Auch an die Frauen. Ich habe mich letztens mit fundamentalistischen Frauen getroffen, die mir tief verschleiert erklärt haben, wie frei sie sich fühlen. Von denen sprach aber nur eine Deutsch, obwohl sie schon jahrelang hier leben. Und das finde ich problematisch. Es darf auch nicht so weit gehen, daß wir in den deustchen Staatsschulen Koran nach ihrem Gusto unterrichten oder ihre Koranschulen finanzieren. Das habe ich immer abgelehnt. Und das wollen wir nicht. Da muß man sich in einem demokratischen Land auch nach der Verfassung richten und welche Werte wir hier haben.
Wenn Sie sich für sich und Ihr Ressort etwas wünschen dürften, was wäre das?
Mehr Ressourcen. Damit wir gerade jetzt Streetworker einsetzen könnten, z.B. in Gröpelingen oder auch in Tenever, wo wir Menschen brauchen, die Beziehungsarbeit leisten, die Ansprechpartner sind vor Ort. Leute, die auch noch nicht soviel Frust getankt haben. Und insgesamt würde ich mir wünschen, daß durch dieses Land ein Ruck geht und es wirklich ein weltoffenes Land sein will. Und daß die Leute sagen werden, wir wissen, daß eine multikulturelle Gesellschaft kein Garten Eden ist. Interview: Birgitt Rambalski/ Foto: Jörg Oberheide
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