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Paul Graham: New Europe

Paul Grahams Neues Europa ist ein altes Territorium, überfrachtet mit Schuld und Düsterkeit, dessen Bewohner entkommen sind in den Rausch, in unglückselige Betäubung. Der Blick geht von Höhle zu Höhle, horizontlos sind Binnenraum und äußere Welt verwoben, Helligkeit ist ein Reflex im Düsteren, ein milchiger Schimmer. Jeder Fotograf hat seinen „idealen Ort“, sein Lieblingslicht; Graham arbeitet gegen diese Neigung. Sein Ort ist geschichtlich definiert: Francos Grab, Bahnhof Friedrichstraße, Stacheldraht in Belfast. Und er definiert sein Objekt geschichtlich, die Güterwaggons von Playmobil als Metonymien der Auslieferung französischer Kinder an Nazi- Deutschland. Am historischen Ort jedoch sucht Graham nicht den literarischen Selbstverweis, sondern reduziert seinen Blick auf das, was Barthes den Staub des Signifikanten genannt hat, etwas unausweichlich Spezifisches, das im Kontext der Serie – hier als Buch – aufgeladen wird zur Indizienkette gegen ein „New Europe“. Dabei unterscheidet Graham nicht zwischen Zufall und Ereignis, Stilisierung und Fund, imaginärem Raum und Text. Was zur Ikonographie des alten Kontinents gehört, wird aufgenommen, angeschlossen an das düstere Fluidum, in dem der Fotograf treibt wie in eines anderen Bewußtseinsstrom. Körper und Warenwelt erscheinen als Rückseiten voneinander; es gibt keinen Halt in der Physiognomie. So finden die Fotografien auch nicht zurück zum Rückgrat künstlerischer Selbstbehauptung, zum Stil. Sie verschränken sich, wie die Orte sich verschränken; Lars van Triers düster ortloses „Europa“ und Derek Jarmans „The Last of England“ sind nicht weit. In Paul Grahams Fotografien allerdings ist die Autorschaft noch weiter heruntergefahren, seine Bilder sind fast tastende Protokolle; der Horizont ist nicht verstellt, er ist als imaginäre Konstante verlorengegangen.

Paul Grahams Essay „New Europe“ ist im Scalo-Verlag erschienen (Text Urs Stahel), 48 DM. Abbildung: Ohne Titel, Belfast, 1988 (rauchende Frau). Ulf Erdmann Ziegler

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