piwik no script img

Wenn der Buchprüfer kommt

■ Zwischen den Regalen unserer Leihbüchereien hält sich ein scheues, verrücktes Volk verborgen, bis der Tag kommt, da wir es brauchen

Er muß vom Himmel gefallen sein. Ein dickes Buch platschte ihm voran auf mein Tischchen, schon kam er schwerstens schnuffelnd hinterdrein geplumpst, nahm augenblicklich seine Schwarte her und blätterte sie vehement von vorne nach hinten durch und rief dazu mit fester Stimme: „Zweiunddreißig-dreiunddreißig-vierunddreißig-fünfunddreißig“, rief er und lugte gewinnend in die Runde, „sechsunddreißig, siebenunddreißig“, rief er, die Nase wieder ins Buch gesenkt, und immer so fort, bis die dreistelligen Zahlen herannahten. Da schloß er seinen Vortrag fürs erste ab und ging zu behaglichem Grummeln über. Ich aber sagte mir: Dieser ist ein König in seinem Reich, wir wollen Frieden halten.

Dann stieg ich ins Oberstübchen der Zentralbibliothek, um mich noch ein Weilchen fortzubilden. Aber kaum war ich bei der Stelle angelangt, wo das Marsupilami eins über die Rübe kriegt, hörte ich ihn schon wieder von weitem: „Achtzehn-neunzehn-zwanzig“, klang es klagend von der Tür herüber, als habe ihm jemand ein Leids getan. Doch fing er sich schnell; bei Dreißig entfuhr ihm schon wieder ein fröhliches Kichern, und in den Vierzigern legte er immerzu blätterraschelnd dermaßen an Tempo zu, daß es ihn mitsamt den Fünfzigern geradenwegs aus der Kurve trug: „Füüfüschich-ßepfüschich-ßiemschich“, jaulte er übertourig und drohte schon vollends in Flammen aufzugehen, da plötzlich schwieg er auf der Stelle stille und ließ ein Lächeln über uns erstrahlen, denn zweifellos war es ihm gelungen, uns übers Ohr zu hauen. Die verbliebenen Seitenzahlen las er dann wieder in dem ernsten Pathos vor, welches der Lage angemessen war.

Ich aber dachte mir: Dieser ist ein König, dem ein schwereres Amt obliegt als uns allen. Einer, dem es aufgetragen ist, alle Bücher der Bibliothek auf Vollständigkeit und Folgerichtigkeit der Seitenzahlen zu überprüfen. Wer möchte es ihm verübeln, wenn er sich mal ein Späßchen gönnt?

Nein, es ist uns eine Erquickung. Seien wir ehrlich: Wer geht denn heute noch in die Bibliothek des Lesens wegen? Ich nicht; ich habe mit all den Majestäten genug zu tun, die dort wie im Verborgenen hausen und ihren Leidenschaften nachgehen. Wißbegierigen Schneckenforschern begegne ich und praktizierenden Geheimschriftenerfindern, auf Trittschemeln sitzen heiligmäßige Trinker ihren Tag aus, und Quartalsredner lauern in düstren Ecken auf Gelegenheiten: Ein oftmals auch wildes, unwirsches Volk ist es, welches hier zwischen all den Büchern sein Asyl gefunden hat. Nur hier sieht man's noch, aber wie von ferne; längst ist es ja verschollen in seiner eigenen Ewigkeit.

Frau Ehlers, Bibliothekarin in Huchting, erzählte mir neulich von dem, den sie damals in Osterholz „den Russen“ nannten. Ein heftiger, ja inflammabler Mann und beseelt von den Belangen der russischen Geschichte. Kam an mit den ausgetüfteltsten Fragestellungen, wollte dies und jenes Extraspezielle, nie zufrieden, immer unterwegs, ein Gottsucher, der in die Luft ging, wenn ihm jemand an die Zeitung faßte. Nur seiner beharrlichen Vortragstätigkeit im Lesesaal ist es zu danken, daß die Kenntnis der russischen Geschichte in Osterholz heute weit über dem Durchschnitt liegt.

„Der Russe“ gehörte womöglich zum Schlag der „Überstudierten“, welcher, wie Frau Melkis aus der Steintor-Filiale berichtet, von den Bibliotheksangestellten seit Menschenaltern beobachtet wird. Diese finden aus dem Studieren nicht mehr heraus und müssen Bücherstapel tragen und Bücher um und um wenden bis ans Ende ihrer Tage. Andere gibt es, die schlurfen nur flackernden Augs herum und empfinden die Wonne, daß ringsum die Leute denken: Da schau her, ein Irrer! Ja, auch Irre gibt es in der Bibliothek. Wo sonst fänden sie noch die Stille vor, die es braucht, um in Erscheinung zu treten?

Vor allem im Winter hat man viel zu sehen; da steigt in dem Maß, in dem die Temperatur fällt, die Quote der Beseelten in den Lesesälen. Regenwetter ist auch günstig. Kürzlich trat ein unauffälliger Mann an meinen Lesetisch, nahm meine Zeitung, faltete sie ordentlich, trug sie an seinen Platz, setzte sich und fing an zu lesen. Ich ging ihm nach, nahm meine Zeitung und trug sie erhobenen Hauptes wieder zurück. Da wurde ich des Kerls gewahr, der mich schon länger beobachtete und sich jetzt hastig Notizen machte. Höchstwahrscheinlich über Irre in der Bibliothek. Manfred Dworschak

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen