: Nepals Energie weggeschwemmt
In dem armen Himalayastaat haben fehlende Umwelt- und Energiepolitik die Überschwemmungskatastrophe mitverursacht ■ Von Bernhard Imhasly
Neu-Delhi (taz) – Der sintflutartige Regen in Nepal hat ungezählten Menschen das Leben gekosteten. Hunderttausende sind obdachlos. Das Wasser aber hat auch bloßgelegt, daß die Wirtschaft des Berglandes trotz fünf Jahrzehnten massiver Entwicklungshilfe sehr zerbrechlich geblieben ist.
Das Ausmaß der Unwetterschäden läßt sich ermessen, wenn man die geschätzten Kosten von 10 Milliarden Rupien mit den soeben veröffentlichten Budgetzahlen vergleicht: sie stellen mehr als die Hälfte der gesamten Einnahmen des Staates für das soeben begonnene Finanzjahr dar. Zur finanziellen Katastrophe hinzu kommt, daß die größten Schäden an einer ohnehin schwachen Infrastruktur zu verzeichnen sind. Sie drohen, die Wirtschaft des Landes um Jahre zurückzuwerfen – und das in einem Augenblick, in dem sie begonnen hat, auf Reformimpulse der ersten demokratisch gewählten Regierung zu reagieren.
Dies wird gerade im Energiesektor deutlich: Neben einer Reihe von Kleinkraftwerken mußte auch das von Japan gebaute Wasserkraftwerk von Kudekhani abgeschaltet werden, als dessen Druckrohre durch die Regenfälle schwer beschädigt wurden. Kudekhani allein liefert mit seinen 90 Megawatt (MW) ein Viertel der Elektrizität des Landes. In einem Bergland, dessen jährliches Wasserkraftpotential auf 82.000 MW geschätzt wird, sind 238 MW installierte Kapazität nach beinahe fünf Entwicklungsdekaden eine sehr bescheidene Kapazität. Nur elf Prozent der Nepalesen kommen in den Genuß elektrischen Stroms. Nach wie vor müssen 79 Prozent des nationalen Energiebedarfs durch Feuerholz gedeckt werden.
In dieser Zahl liegt eine wichtige Ursache für das Ausmaß der diesjährigen Flutwelle: die Abholzung der Wälder und die für ein unwegsames Berggelände überaus dichte Besiedlung sind die entscheidenden Faktoren für die katastrophale Erosion. Die nackten, steil abfallenden Talflanken haben die Niederschläge rasch in die Talrinnen geschwemmt, wo kleine Flüsse innerhalb von Stunden zu reißenden Strömen aufschwollen und Behausungen und Straßen mitrissen.
Trotz des weitgehenden Kahlschlags gab es bis vor einem Jahr keine umfassende Umweltpolitik in dem Himalayaland. Noch 1991/92 konnte die staatliche Nepal Timber Corporation stolz verkünden, 1,8 Millionen Kubikfuß Holz geschlagen zu haben; erst nach der Verabschiedung eines Forstgesetzes reduzierte sich dieses Volumen letztes Jahr auf 0.3 Millionen. Zugleich erhöhte sich die Aufforstung auf immer noch bescheidene 12.000 Hektar. Laut Finanzminister Mahesh Acharya hat Nepal einen jährlichen Neubedarf an elektrischer Energie von 25-30 MW und die Energiesituation hatte somit bereits vor der jüngsten Unwetterkatastrophe „eine kritische Grenze erreicht“.
Dennoch gab es bis vor wenigen Wochen keine Anzeichen, daß die Politiker die Krisenzeichen erkannt hätten: Seit über einem Jahr streiten sich Regierung und kommunistische Opposition über die Frage, ob für die Bewilligung des Wasserkraftwerks von Tanakpur, das von Indien gebaut werden soll, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig ist.
Die Energieknappheit droht nun auch die Wirtschaftsreform der Regierung Koirala ins Stocken zu bringen. Zu ihr gehören, neben der Befreiung des Wechselkurses und der Zulassung privater Dienstleistungen im Finanzsektor, die weitgehende Privatisierung sowie die internationale Öffnung von Handel und Industrie.
Bei einem Gesamtwachstum von 2,9 Prozent im letzten Finanzjahr (bis Mitte Juli 1993) zeigten nur die Dienstleistungen – und da vor allem im Tourismussektor – einen positiven Trend. Wegen zahlreicher Stromausfälle wies die Industrieproduktion ein leicht negatives Wachstum von einem halben Prozent aus. Besonders schwach fiel jedoch die Agrarproduktion aus, in der noch immer knapp die Hälfte des Volkseinkommens erwirtschaftet wird. Die Gesamtproduktion fiel zwar „nur“ um 1,2 Prozent, doch die für eine arme Bauernbevölkerung lebenswichtige Nahrungsmittelproduktion fiel um 10 Prozent. Trotz reichlich fließenden Entwicklungsgeldern stagniert Nepals Landwirtschaft seit vielen Jahren und wächst nur dort, wo neue Anbauflächen erschlossen werden. Im letzten Jahr war es das Ausbleiben des Monsuns, das vor allem den Reisertrag traf: 20 Prozent weniger als im Vorjahr konnten geerntet werden. In diesem Frühjahr folgten dann Hagelunwetter. Angesichts der extremen Schwäche von zentralen Sektoren wie Landwirtschaft und Energie, stellen sich in Katmandu nunmehr auch Entwicklungshelfer die Frage nach dem gesamtwirtschaftlichen Nutzen vieler ihrer Projekte.
Laut Angaben des Finanzministeriums sind allein in den letzten 18 Jahren 55 Milliarden Rupien in das kleine Bergkönigreich geflossen – angeboten hatten die multi- und bilateralen Geber (darunter prominent auch Deutschland und die Schweiz) gar das Doppelte. Ganz sicher haben sie zur berüchtigten „Empfängermentalität“ geführt, die sich etwa darin äußert, daß Generationen nepalesischer Finanzminister zum bequemen Mittel der Defizitfinanzierung greifen konnten, weil Fehlbeträge jeweils von Geschenken und weichen Krediten des spendefreudigen Auslands gedeckt wurden.
Im gleichen Zeitraum von 18 Jahren hat sich das Volumen der jährlichen Defizite um den Faktor 26 multipliziert und erreichte etwa im vergangenen Jahr 16 Milliarden Rupien – was mehr ist, als die gesamten Staatseinnahmen von 14,8 Milliarden. In seiner Budgetrede versprach der Finanzminister, das Defizit mindestens auf dem letztjährigen Stand von 8,2 Prozent des Volkseinkommens zu halten.
Nicht einfach – denn einerseits sind die Erwartungen der Nepalesen nach der demokratischen Revolution gerade für die Sozialbereiche Gesundheit, Bildung und eine Verwaltungsreform gestiegen. Andererseits gingen die Einkünfte aus Steuern zurück, und die stagnierende Industrieproduktion hat auch die Zolleinnahmen aus Importen schrumpfen lassen. Die steuerliche Bevorzugung der Produktion einzelner Exportgüter wie Teppiche und Textilien hat zudem zu einer einseitigen Abhängigkeit von einzelnen Ländern und deren Konjunkturzyklen geführt. 80 Prozent aller Teppiche ,die zusammen mit Kleiderwaren zwei Drittel der Exporte abdecken, gehen nach Deutschland.
Auch die beachtlichen Fortschritte, die die Liberalisierung etwa im Bereich der Inflationsbekämpfung (1992/93: + 6 Prozent) gehabt hat, drohen nun durch die neuesten Unwetter wieder in Frage gestellt zu werden. In Katmandu sind die Preise der Grundgüter bereits um ein Vielfaches gestiegen. Ein erneuter Ernteausfall würde den Staat zu massiven Nahrungsmitteleinfuhren zwingen, was die Haushaltsdisziplin erneut schwerem Druck aussetzen würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen