: Stasi-Spion im Flüchtlingslager
■ Ehemaliger Leiter des Aufnahmelagers Marienfelde soll über 30 Jahre lang für die Stasi spioniert haben
Der mutmaßliche hochkarätige DDR-Spion im Westberliner Aufnahmelager Marienfelde ist bereits vor einem guten halben Jahr enttarnt worden. Der MDR hatte am Mittwoch gemeldet, der langjährige Leiter dieses Aufnahmelagers „Dr. Götz Sch.“ habe viele Jahre als Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindberührung (IMB) für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet und so viele Angehörige und Freunde geflüchteter DDR-Bürger ins Gefängnis gebracht. Der Spion unter dem Decknamen „Dr. Lutter“ sei zudem pikanterweise der einzige Bundesbürger, der sowohl eine Verdienstmedaille der DDR als auch das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen habe.
Am Mittwoch abend stellte sich heraus, daß bereits im Dezember 1992 die Bild-Zeitung und die Berliner Morgenpost von diesem „Stasi-Spion mit Bundesverdienstkreuz“ berichtet hatten. Danach hatte sich Götz Schlicht 1957 im DDR-Zuchthaus Bützow-Dreibergen von der Stasi anwerben lassen. Weil er Flugblätter des Untersuchungsausschusses Freiwilliger Juristen (UFJ) verteilt hatte, sei er 1952 verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Mit Wissen der damaligen DDR-Justizministerin Hilde Benjamin sei Schlicht 1957 begnadigt und dann in den UFJ im Westen eingeschleust worden.
Nach Informationen der Zeitungen soll der Jurist von 1957 bis 1989 zunächst den UFJ und dann das Gesamtdeutsche Institut für die Stasi ausgespäht haben. Als späterer Mitarbeiter des Innerdeutschen Ministeriums hatte er sein Büro im Flüchtlingslager in Marienfelde. Als Spion habe er die Ergebnisse der Befragung Hunderter DDR-Bürger, die nach Westdeutschland übersiedelten oder über die Mauer geflohen waren, postwendend der Stasi mitgeteilt und so Angehörige und Freunde der Flüchtlinge für viele Jahre ins Gefängnis gebracht.
Die Stasi habe seine Bericht so hoch eingeschätzt, daß er von Stasi-Minister Erich Mielke allein fünf DDR-Orden erhalten habe. Auch der Bundespräsident habe ihm am 24. Oktober 1991 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Die Bundesanwaltschaft wollte am Mittwoch auf Anfrage keinen Kommentar zu dem Spionageverdacht gegen Schlicht geben. Im Dezember 1992 hatte der Sprecher des Generalbundesanwaltes erklärt, seine Behörde führe Ermittlungen grundsätzlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Wie gestern bekannt wurde, wird Schlicht das Bundesverdienstkreuz aller Voraussicht nach bald wieder abgeben müssen. Wie ein Sprecher der Ordenskanzlei beim Bundespräsidenten gestern in Bonn erläuterte, kann ein Bundesverdienstkreuz wieder entzogen werden, wenn sich der Betreffende seiner unwürdig erweise. dpa
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