piwik no script img

Lokomotive gegen Dynamo

VfB Leipzig – Dynamo Dresden 3:3 / Das Sachsenderby: Ein Spiel, dessen Stellenwert ein Wessi nicht begreifen kann  ■ Aus Leipzig Cornelia Heim

15.30 Uhr, Zentralstadion Leipzig: Sachsen-Derby. 31.400 Zuschauer sind in die ramponierte, teilweise renovierte alte „Schüssel“, Baujahr 1956, gepilgert. 80 Hooligans werden abgeführt. Das Polizeiaufgebot ist immens: 400 Behelmte sichern Stadion und Stadt. Premiere in der Bundesliga: Zwei Underdogs der Liga stehen sich gegenüber, die beiden einzigen Vertreter aus dem deutschen Osten. Zwei Minimalisten.

Gestatten, VfB Leipzig, der Verein mit dem kleinsten Etat (acht Millionen) und dem kleinsten Kader (16 Lizenzspieler), in dem selbst der Trainer den Strohhalm noch im Fatalismus sucht: „Was für uns spricht, ist, daß alles gegen uns spricht.“ Eine „sonderbare Liaison zweier Parteien mit lädiertem Leumund“ (Die Welt) soll der ehemaligen Lokomotive Dampf machen: Der ehemalige SED-Parteiclub, nie ein Club des Volkes, und sein Präsidenten- Sponsor, der agile Immobilienhändler aus Nürnberg, Dr. Siegfried Axtmann (35) der 80 Prozent seiner Millionengeschäfte aus der Region zieht. Polit-Prominenz wahrt vorsichtig Distanz. Der SPD-Oberbürgermeister Heinrich Grube-Lehmann ist Ehrenmitglied vom FC Sachsen, dem Arbeiterverein. Bei der Aufstiegsfete war er zwar zugegen, wurde aber gellend ausgepfiffen. Landeschef Kurt Biedenkopf ist den Dresdnern fußballtechnisch zugetan.

Der Gastgeber, also, die graue Maus der Liga, ohne echte Verstärkung, mit sechs Aktiven, die die alten Zeiten mitmachten und 1987 im Europapokalfinale gegen Ajax Amsterdam 0:1 verloren. Dafür gespickt mit original „Leipziger Allerlei“, weil jeder potentielle Neuzugang sofort wieder die Koffer packt, wenn er der Plattenbau- Siedlungen mitsamt der grauen Tristesse der Messestadt ansichtig wird. Außerdem: In Leipzig ist ein Kicker auch nur ein Mensch, kein Fürst. Lediglich drei Spieler genießen den Luxus eines Telefons.

Gestatten, Dynamo Dresden, der Club mit der höchsten Hypothek, einem vier Punkte-Abzug, und ohne Trikotsponsor. Aber mit einem hartgesottenen Trainer, der beim Auftakt sein 51. Wiegenfest feierte. Sigi Held: „Mich kann nichts mehr überraschen, ich habe schon alles mitgemacht.“ Und Held hat einen echten Marschall- Plan: Olaf Marschall, sein Mitbringsel aus Österreich. Hinter dem Ex-Leipziger war auch der VfB her. Doch man habe eben gegen einen „reicheren Club“ das Nachsehen gehabt. Das sagt Bernd Stange, still, zurückhaltend, bescheiden, wie er sich zu geben pflegt. Nur nicht anecken. Keine bösen Worte.

Für böses Blut sorgen andere, die sogenannten Fans beispielsweise, die nach zehn Minuten Randale machen, das marode Gestühl im Dynamo-Block zu Wurfgeschossen umfunktionieren und die eben erst notdürftig sanierte Tribüne wieder zerstören. Sisyphos ist im Osten zu Hause.

„Trotzdem“ ist ein beliebtes Wort in Leipzig. „Wir werden immer belächelt.“ Richtig, „trotzdem“ werde man irgendwie die Punkte zusammenklauben. Mit den Spielern, „die sich hier zurecht finden.“ Teamgeist heißt die oft strapazierte Vokabel, die man den reicheren, sprich allen Vereinen in einem kollektiven Kraftakt entgegenzuschleudern gedenkt.

Kleiner Underdog gegen großer Underdog: Wie einem Wessi die Tragweite dieser Begegnung klarmachen?. „Das geht gar nicht“, sagt Jörg Berger, der Trainer, der schon vor Jahren „rübergemacht“ hat, „weil ein Wessi die Geschichte nicht kennt.“ Berger sitzt auf der Tribüne und macht sich Notizen. Was er sieht: Beide Abwehrreihen gereichen den Löchern im Schweizer Käse zu Ehren. Und erst die Torhüter: Beide mußten dreimal hinter sich greifen. Stanislaw Tschertschessow, der russische National-Tormann, in der zehnten Minute nach einem Freistoß von Matthias Lindner. Dann als er einen satten Schuß von Dirk Anders unterschätzte und nach einem verlängerten Kopfball von Anders ins Leere griff. Ebenso unrühmlich Maik Kischko auf der anderen Seite: In dessen Tornetz schlug der Marschall-Plan dreimal ein. Die „Krake“ griff im Fünf-Meter- Raum nicht zu und hatte bei einem Schuß aus 20 Meter die Reaktion einer Schnecke im Winterschlaf.

Keine zwingenden Aktionen, schöne Einzelleistungen, viele Tore: 3:3. Das Duell zweier Abstiegskandidaten? Jörg Berger: „Von der Abwehrleistung her schon.“ Bezeichnenderweise gab es „trotzdem“ Kaviar. Zwölf Döschen von VfB-Manager Klaus Dietze für Dynamos stattlichen Präsidenten Rolf-Jürgen Otto.

Dynamo Dresden: Tschertschessow - Wagenhaus - Schößler, Maucksch - Pilz, Kmetsch, Stevic, Schmäler, Kranz - Jähnig (86. Rösler), Marschall

Zuschauer: 31.400; Tore: 1:0 Lindner (10.), 1:1 Marschall (15.), 2:1 Anders (17.), 3:1 Anders (24.), 3:2 Marschall (27.), 3:3 Marschall (69.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen