: Alle Räder stehen still...
Die Zukunft der traditionsreichen Spinnereien und Zwirnereien in der Textilarbeiterregion Flöha bei Chemnitz hängt am seidenen Faden ■ Von Elke Hagenau
Am Anfang war die Spinnerei. Der Fluß, die Fernstraße am Fuße des Erzgebirges und die Eisenbahn zogen um die Jahrhundertwende Textilfabrikanten an die Flöha bei Chemnitz. Sie bauten am Rande der Bauerndörfer Fabriken, Wohnhäuser und Kinderverwahranstalten.
Die „Spinne“ prägte fortan die Region und die Menschen. Viele meinten zwar auch zu DDR-Zeiten, wer dort sein Geld verdiene, habe nichts anderes bekommen. Aber weil die Textilindustrie hier zu Hause war, gingen die Großmutter, die Tochter und auch die Enkelin in die Fabrik. Am Ende stimmte wenigstens das Geld. Mit allen Zulagen für rollende Schichtarbeit steckten jeden Monat mindestens 1.200 Mark in der Lohntüte. Im Vergleich zu anderen Jobs in der DDR ein lohnender Trost. Vom Niedergang der Textilindustrie im Land der reichen Brüder und Schwestern wollte nach der Wende hier keiner mehr etwas hören. Wenn einer blühende Gärten verspricht, dann meint er natürlich auch das Flöhatal.
Noch heute besitzt die Stadt Flöha nur den Charme eines zweckmäßigen Zusammenfalls von fünf Dörfern. Die Fabrik, größter Arbeitgeber im Ort, ist seit über zwei Jahren abgeschaltet, die Stadt aber zeigt sich geschäftig wie eh. Über die beiden Bundesstraßen rollen die Autos. Die einzige Ampel des Ortes stoppt den Durchgangsverkehr und verursacht einen permanenten Stau entlang der grauen Häuserfronten. Kein Marktplatz ziert den Ort, kein gemütliches Café lädt ein, kein Jugendzentrum sorgt für Abwechslung, kein Einkaufsboulevard verführt. Einziger Blickfang – das denkmalgeschützte Gemäuer der verwaisten Baumwollspinnerei.
Hier arbeiteten bis 1990 etwa 3.000 Menschen. Sie spannen im Jahr 75.000 Tonnen Garn und drehten 15.000 Tonnen Zwirn. Werner Möbius, der einstige VEB- Direktor, unterschrieb in den letzten beiden Jahren Tausende Kündigungen. Er hätte in den Vorruhestand gehen können, statt sich an die Seite des Liquidators der Treuhand zu stellen. Gutes, so glaubt er, würde über ihn im Ort bestimmt nicht gesagt. Bis auf 120 Mitarbeiter manövrierte Möbius die Belegschaft in die Umschulung: Aus Textilarbeitern werden entweder Kaufleute oder Verpacker. Was sie verkaufen oder verpacken sollen, weiß bis heute niemand so recht. Die Arbeitslosenquote liegt bei 17 Prozent. Noch wird sie kaschiert durch Förderzentren und Beschäftigungsschulen.
Nein, es hat auch vor der Wende keinen rechten Spaß mehr gemacht, solch einem großen Unternehmen vorzustehen: „Es drehte sich alles um den Plan. Wir mußten in den letzten Jahren immer mehr Engpässe überwinden, um die Maschinen überhaupt noch am Laufen zu halten.“ Während in anderen Werken durchaus auch investiert wurde, in Flöha blieb alles beim alten. Die Maschinen dröhnten Jahrzehnte Tag und Nacht. Kurz vor Toresschluß sollten wenigstens die Mittel für einen neuen Speisesaal fließen. Zu spät. Der Rohbau steht und verfällt mitten im Hof.
Die Treuhand gab inzwischen über 13 Millionen Mark aus, damit wenigstens in fünf von einst neun Werken der „Vereinigten Baumwollspinnereien und Zwirnereien“ weiter produziert werden kann. Arbeit für etwa 1.000 Menschen von einst 15.000. Tiefrot seien die Betriebszahlen, erklärt Möbius. Aber spätestens 1995 arbeitete die Spinnerei Flöha mit Gewinn. Möbius will das Werk erhalten, baut auf Qualität und Flexibilität des Unternehmens. Die Abnehmer des gesponnenen Leinens sollen aus den alten Bundesländern, Griechenland, England, Portugal, aus der Schweiz und Frankreich kommen.
Schräg über der Straße sitzt der stellvertretende Bürgermeister Günter Klug. Er träumt von einem City-Projekt mit der alten, ehrwürdigen Spinnerei. Viele sollen kommen, sich ansiedeln, kleine Handwerksbetriebe aufmachen, tausend Dinge verkaufen, High-Tech mitbringen. Listig, wie er und seine Mitträumer sind, haben sie bislang verhindern können, daß sich Gewerbegebiete am Stadtrand breitmachen. Einen Haken hat die Sache: Die Treuhand möchte 14 Millionen für die Immobilie. Macht nichts, der Mann hat noch einen anderen Traum: Flöha könnte die feine Vorstadt von Chemnitz werden – natürlich mit Golfplatz und Tennisanlage.
Renate Winkler schaut ungläubig auf. Ob ihr abends die Beine wehtun, das habe sie nun wirklich noch nie jemand gefragt. Sie ist 55 Jahre und seit 40 Jahren in der Spinnerei. In Falkenau, dem nächsten Dorf flußaufwärts der Flöha, haben sie und 22 andere Frauen nach der Umschulung zum Verpacker wieder einen Job bekommen. Den Lohn für die „schwer vermittelbaren, älteren Arbeiterinnen“ finanzieren zu 40 Prozent das Land Sachsen und die Bundesanstalt für Arbeit.
Nein, gern sei sie nicht in den Betrieb zurückgekommen: „Falkenau war mal die modernste Spinnerei, 33 Tonnen Garn wurden hier täglich produziert, und die haben das nun alles mutwillig kaputtgemacht. Wir waren eben ein zu starker Konkurrent.“ Die Maschinen des Vorzeigebetriebes sind demontiert, verschrottet oder nach Pakistan verkauft. Die neuen Anlagen kommen aus den alten Bundesländern.
In Falkenau leben 1.800 Menschen, zwei Drittel davon haben in der Spinnerei gearbeitet. Die Frauen erzählen, daß sie im Dorf nicht mehr gegrüßt werden, seitdem sie wieder spinnen: „So groß ist der Haß. Die Beziehungen sind vollkommen in die Brüche gegangen. Jeder sieht nur noch seins. Die Männer sitzen den ganzen Tag rum. Abends schütten sie sich zu, und dann zanken sie sich. Das war früher nicht so.“
Renate Winkler winkt ab. Es sei ihr doch nie schlecht gegangen. Jetzt aber wisse sie nicht, was der nächste Tag bringt. Verächtlich zeigt die Frau auf die rotierenden Maschinen. Sie glaubt nicht, daß der Zwirn tatsächlich verkauft wird, und sie weiß auch, wer daran schuld ist. „Die müßten die Einfuhr aus den Billigländern endlich verbieten.“
Der Maschinenlärm zerreißt die Wörter. Die beiden anderen Frauen pressen fest die Lippen zusammen. Was, im Urlaub? Nein, im Urlaub war sie seit der Wende nicht mehr. Von was denn auch? Sie verdient jetzt weniger als zu DDR-Zeiten, nicht mal 1.000 Mark. Selbst die ABM-Kräfte, die draußen den Hof fegen, werden besser entlohnt. „So schlimm haben wir uns das nicht vorgestellt. Sicher sollen die arbeitslos werden, die sich immer nur durchjongliert haben. Aber wir sind es alle geworden“, sagte eine Arbeiterin. Jeder nur noch seins.
Weiter flußaufwärts in Hohenfichte, wo ein Häuschen hübscher als das andere geschmückt ist, herrscht rege Betriebsamkeit auf dem Fabrikgelände der Spinnerei. Der alte und neue Werkleiter Lothar Stanzel präsentiert sich wie zur guten alten Zeit. Er hat schwer zu tun, obwohl gar nichts produziert wird. Früher wurde hier Acryl, eine Chemiefaser, gesponnen. Fast angewidert zeigt er auf die allzu bekannten Babystrampler, die einst unverwüstlichen Kinderpullis und versucht gleichzeitig, die Aufmerksamkeit auf seine stilvollen Büromöbel zu lenken. Am letzten Dezembertag 1991 schaltete Stanzel den Betrieb ab.
Das Unwetter aber zog an ihm vorüber. Geheimnisvoll redet der 40jährige um „das Neue“ herum. Fest steht, in Hohenfichte investiert die Treuhand. In Millionenhöhe. Stanzel bückt sich verschwörerisch über seinen Schreibtisch und flüstert andächtig: „Supermodernes.“ Dann setzt er sich wieder gerade hin: Mehr kann er nicht verraten, die Konkurrenz schläft schließlich nicht.
Von den 450 Mitarbeitern sollen 45 wieder in Lohn und Brot genommen werden. Stanzels Ausharren – ein Kapitän geht erst nach der Mannschaft vom Schiff – scheint sich auszuzahlen. Künftige Käufer, so hofft er, werden ihm das sicher honorieren. Obwohl es deutsche Textilfabrikanten seit Jahren in Billiglohnländer zieht, soll es ernsthafte Interessenten geben. Wer aufbaut, sieht die Welt gleich viel freundlicher. An den Fingern zählt Stanzel die Standortvorteile von Hohenfichte auf: viel los ist hier, ständig finden lustige Feste statt, die Leute sind bodenständig und haben — das ist der Beweis — viel Liebe in die „Häusle“ gesteckt.
Unten im 800-Seelen-Dorf Hohenfichte ist die Stimmung gar nicht so großartig. Dabei kommt am Sonnabend Rex Gildo hierher! Wer hätte sich das vor drei Jahren überhaupt träumen lassen? Doch Ekkehart Heidrich, der Gastwirt und Mitorganisator des Spektakels zugunsten eines SOS-Kinderdorfes in Zwickau, ist schon im Vorfeld sicher: „Die Hohenfichtener werden bestimmt nicht kommen.“ Der gebürtige Flöhaner ist knapp 40 Jahre alt. Er war Offizier der Nationalen Volksarmee. Ging geschmeidig mit der Wende und kaufte die Gaststube in Hohenfichte. Zu einer „roten Sau“ aber gehen die Leute hier nicht. Da haben sie Charakter. Sie werden wie jeden Abend fest ihre Türen verschließen und das Bier vor dem Fernseher allein trinken. Dabei kann Rex Gildo nun wirklich nichts dafür.
Lothar Stanzel, Leiter des Hohenfichtener Werkes ohne Belegschaft, gibt einen Rat. Er nämlich ahnt, wo der Weg hinführen wird, der Weg zur wirtschaftlichen Gesundung der Region. Flußaufwärts sollen wir fahren, hoch ins Erzgebirge. „Die schnitzen da die Nußknacker. Wunderschön, sag' ich Ihnen! Und außerdem sind die eine prächtige Geldanlage. Das, ich sage es Ihnen, das ist die Zukunft!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen