■ Was einen nicht umbringt, das härtet einen ab:: Osteuropas kulinarische Tiefflieger
Kiew (taz) – Die Grenze zwischen West- und Osteuropa verläuft exakt da, wo sich die gardinenbehangenen Fenster des Lemberger Grand-Hotels auf den Freiheitsplatz öffnen. Vor dem Fenster steht eine 50 Meter lange Schlange, die in einem Café endet, das kleine Eistüten verkauft. An der Hoteltür mit den Walkie-talkie-bewehrten Portiers endet die Szenerie. Von hier ab wird nur in Devisen bezahlt. Hier beginnt allerdings auch die wahre ukrainische Küche.
Es gibt „Spezialitäten“, wie sie früher einmal in den Wirtshäusern Lembergs gereicht wurden: Pirogen, ukrainischen Barschtsch, Rouladen und Pasteten. Die kulinarischen Errungenschaften der Lemberger Intouristhotels beschränken sich jedoch, der wohlklingenden Namen zum Trotz, in Wahrheit auf schwarze Fleischklumpen mit kalten Pommes. Als Vorspeise reicht man in der Regel eine rötliche Brühe, die sich Barschtsch nennt. Im günstigsten Fall schwimmen sogar Hühnerknochen darin umher. Daran hat sich selbst nach der Privatisierung nichts geändert. Nur die Preise sind weiter angestiegen, so daß man für eine Übernachtung in der Saison um die 100 Dollar einkalkulieren muß. Das Essen gibt es zwar gegen einheimische Währung, aber so schmeckt es dann auch. Selbst die privaten „Kooperativen- Kneipen“ pflegen in Kiew von morgens bis abends ausverkauft zu sein. Obwohl jeder zweite Tisch unbesetzt ist! Das Schild am Eingang ist nichts weiter als eine unmißverständliche Aufforderung, dem Portier ein Voraus-Trinkgeld zu geben. Der real existierende Sozialismus wurde in Kiew zwar abgeschafft, aber so richtig „real“ existiert er immer noch. Das bedeutet, daß ein Portier oder Kellner immer noch mehr Macht über eine Gaststätte hat, als der Besitzer.
Das vergällt so manchem Touristen in Kiew das Leben; denn obwohl in den privaten „Voluta- Kneipen“ das Essen ohne gesundheitliche Schäden zu genießen und dementsprechend teuer ist, ist die örtliche Schickeria immer schon vorher dagewesen. Schlangen sind auch hier nicht selten. Wer jedoch bereit ist, für eine Portion Spaghetti 15 Mark zu bezahlen, bekommt immerhin etwas zwischen die Zähne. Wer sich aufmacht, Kiew mit der einheimischen Währung zu erobern, versorgt sich vorher besser mit Proviant. Interessanter ist das allemal, denn die Intourist-Kästen zwischen Kiew und Wilna gleichen einander wie ein Ei dem anderen nicht nur, was die Ausstattung und den zweifelhaften Diensteifer des Personals angeht. Überall gibt es „Fritki“, die slawische Verballhornung von Pommes Frites; überall gibt es die gleichen zähen panierten Schnitzel, die mancherorts gar „Wiener Schnitzel“ heißen, als könne man damit die Schuld für ihren Zustand auf die Österreicher abwälzen.
Dennoch bieten die Devisenkästen in Städten wie Wilna und Kiew einen Vorteil: die Flucht. Gäste, die während des Abendessens im Kiewer „Rus“ grün anlaufen, können schnell zum benachbarten „Intourist“ überlaufen und immerhin einigermaßen gesättigt schlafen gehen. Denn in Minsk dagegen hätten sie mit einem spontanen Ortswechsel Pech: die nächste Nahrungsquelle wäre zu weit entfernt. Menschen, die unbedingt nach Osteuropa zum Essen fahren wollen, empfehlen wir daher außer den beiden einzigen Joint-venture- Hotels in Lviv und Ivano Frankivsk eine Reise nach Wilna. In der litauischen Hauptstadt gibt es immerhin einen englischsprachigen Reiseführer mit ausführlicher Kneipenrezension, der von dort lebenden Ausländern erstellt wurde. Dort ist das Essen nicht nur in den Devisenschuppen reichlich und genießbar, auch ohne daß man Kellner oder Portiers bestechen muß. Klaus Bachmann
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