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Kinder als Embargo-Opfer

In den serbischen Krankenhäusern fehlt es an Medikamenten / Betroffen sind vor allem die Flüchtlingskinder aus Bosnien und Kroatien  ■ Aus Belgrad Peter Dammann

Ein Kind in unserer Klinik hat heute versucht, sich zu erhängen. Die Pfleger konnten ihn im letzten Moment abschneiden.“ Der 60jährige Professor Dušan Vranješević leitet seit neun Jahren die Kinderpsychiatrie und Neurologie im Universitätskrankenhaus der serbischen Hauptstadt Belgrad. Er hat seine Ellbogen aufgestemmt, gestikuliert mit den Händen und blickt wütend auf den Schreibtisch. Dann springt er auf, um aus der Bücherwand des Büros seinen Privatzucker für den türkischen Kaffee zu holen. Zucker ist in diesen Tagen in Belgrad ein teurer Luxusartikel.

Das Kind, ein Flüchtling aus Bosnien, leidet unter Depressionen. Die Ärzte mußten den Jungen mit Binden an sein Bett fesseln, der Professor hat Zwangsjacken bestellt. „Ich bin wütend auf jeden. Ich weiß nicht was ich tun soll“, sagt Vranješević. „Ich würde den letzten Dinar geben – aber das Kind braucht ,Nosinan‘, und dieses Mittel gibt es in Belgrad nicht zu kaufen. Jetzt warte ich nur darauf, daß ich von meinen Kollegen im Westen angeprangert werde, weil ich Zwangsjacken austeilen muß – wie im letzten Jahrhundert.“

Am schlimmsten ist für Vranješević, daß er nicht helfen kann, dabeistehen muß, wenn ein Kind Atemnot bekommt und erstickt. „Dieses Embargo trifft nicht die Politiker und das Militär“, faßt der Arzt zusammen, „die Ärmsten sind die Leidtragenden.“ Von den 458.000 Flüchtlingen in Serbien – so die Angaben des UN-Hochkommissariates für Flüchtlinge (UNHCR) – sind 250.000 Kinder. Mitarbeiter des Belgrader Büros des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) schätzen, daß 90.000 der 7-14jährigen Kinder unter „besonders schweren Bedingungen“ leben. Das heißt, sie haben ihre Eltern verloren, oder aber körperlich oder geistig schwer krank sind. Eigentlich sollten Medikamente vom UN-Embargo gegen die aus den ex-jugoslawischen Republiken Serbien und Montenegro bestehende „Bundesrepublik Jugoslawien“ ausgenommen sein. Aber alle Hilfsorganisationen haben große Schwierigkeiten, Transporte über die Grenze nach Serbien zu bringen.

Der Generaldirektor der Kinderklinik des Universitätskrankenhauses, Dr. Dušan Stepanović, schildert empört die bürokratische Prozedur beim Beantragen von Hilfssendungen. „Wir müssen die Bezeichnung aller Medikamente einer Hilfssendung in eine Liste eintragen, den Namen des Fahrers nennen sowie den genauen Tag und die Stunde der Abfahrt angeben, bevor die Erlaubnis der UN- Behörden zur Einfuhr erteilt wird. Die Bearbeitung unserer Anträge bei der UN dauert Monate, wie soll ich da den genauen Tag des Transports wissen?“

„Das Schlimmste ist das Abschlachten“

Seit Juni dieses Jahres hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. In der Kinderklinik gibt es keine Desinfektionsmittel mehr, um die Hände der ÄrztInnen und Krankenschwestern vor den Operationen zu waschen. Kontrastmittel, Röntgenfilme, Antibiotika und Zytostatika – notwendig für die Chemotherapien gegen Krebs – fehlen. Stepanović und seine Kollegen müssen auswählen, welchen Kindern geholfen werden soll. Dann hat der Direktor keine Zeit mehr, mit uns zu sprechen. Zahlreiche Eltern wollen sich bei ihm beschweren. Sie können nicht glauben, daß es keine Medikamente für ihr Kind gibt, und beschuldigen die Ärzte, diese gestohlen zu haben.

Nino ist erst seit drei Tagen in der Kinderpsychiatrie. Seit seinem vierten Lebensjahr hatte er Alpträume. Schon 1991, vor Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, wurde der Elfjährige in einem Krankenhaus in Glina in Kroatien behandelt, dann wurde das Gebäude zerstört. Früher träumte Nino von Monstern, aber seit Kriegsbeginn haben sich seine Angstphantasien verändert. „Ich erlebe in der Nacht furchtbare Sachen“, erklärt der Junge ernst und setzt sich auf den Kinderstuhl neben seinem Bett. „Das Schlimmste ist das Abschlachten im Krieg.“

Zwei Jahre lebte Nino im Kriegsgebiet und konnte nicht behandelt werden, dann gelang es seiner Mutter, ihn nach Belgrad zu bringen. Seine Krankenakte fehlt, die Ärzte in Belgrad müssen daher eine neue Diagnose stellen. Sie vermuten eine Art Epilepsie mit Angstträumen, aber die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. „Für uns ist es schwer zu unterscheiden, welche Ängste aufgrund seiner Erlebnisse entstanden sind, und welche Ängste organische Ursachen haben“, erklärt ein Neuropsychiaterin. Nino müßte ein Medikament mit dem Namen „Tegretol“ bekommen. Es gibt dieses Medikament nur auf dem Schwarzmarkt. Weil aber seine Eltern nicht genug Geld haben, wird Nino wohl weiterhin vom „Abschlachten“ träumen müssen.

Im Nebenzimmer sitzt Zorica aus Bosnien auf ihrem Bett. Sie gehört zu den zwanzig Kindern, die in die Neurologie aufgrund von Kriegsverletzungen eingeliefert wurden. Als es ihr Heimatdorf noch gab, ging die Vierzehnjährige in der Kleinstadt Bosanska Krupa zur Schule. „Auf dem Heimweg bin ich auf eine Tretmine getreten, dann war ich 17 Tage im Koma“, erzählt sie. Aufgrund einer Kopfverletzung sieht Zorica bis heute alles doppelt. Es wird noch Jahre dauern, bis sie wieder gesund ist. Wenn Zorica bei einer guten Fee drei Wünsche hätte, möchte sie erstens wieder in ihr Dorf zurück, zweitens gesund werden und drittens, daß alles so wie früher wird.

Es ist unmöglich, uns aus der Kinderpsychiatrie telefonisch in der Onkologie anzumelden: Die Telefonzentrale des Krankenhauses ist defekt. Eine Ärztin muß uns deshalb zu ihren Kollegen begleiten. In der Krebsabteilung treffen wir Vojkam Radojković, der seinen Sohn besucht. Der 18jährige liegt, kahlköpfig von der Chemotherapie, seit sechs Monaten mit Lymphknotenkrebs im Krankenhaus. Herr Radojković hat Glück im Unglück, immerhin gehört er zu den zehn Prozent der Beschäftigten in Serbien, die wirklich Arbeit haben.

Aber für die Finanzierung der Chemotherapie nützt Radojković auch sein festes Anstellungsverhältnis wenig. Durch die Inflation ist das monatliche Gehalt des Metallfacharbeiters in nur zwei Jahren von umgerechnet 2.000 DM auf 5 DM gesunken. Für die Medikamente der Chemotherapie mußte er schon 7.000 DM bezahlen. Alle vier Wochen besucht Radojković seinen Sohn im Krankenhaus, dazu muß er 400 Kilometer mit dem Auto fahren. Ein Liter Benzin kostet 2-3 DM. Der Arbeiter leiht sich das Geld und wird später sein Haus verkaufen müssen.

„Das ist auch nicht richtig“, meint die deutsch sprechende Chefärztin der Onkologie, Frau Dragana Janić, nachdem wir den Raum verlassen haben. „Der Mann hat noch mehr Kinder, die Familie wird völlig verarmen. Manchen Eltern können wir nicht sagen, daß sie die Medikamente selbst kaufen müssen. Sie haben kein Geld und fühlen sich dann schuldig, weil sie das Leben ihrer Kinder nicht retten können.“

Die katastrophale Versorgungslage in den Krankenhäusern hat sich unter den Eltern herumgesprochen. Trotzdem bleiben Proteste an die Adresse der Regierung in Belgrad bisher weitgehend aus. Die offiziellen Stellen benutzten den Mangel gar für die Propaganda des Regimes gegen die Blockade der Vereinten Nationen, die sie für die katastrophale Situation verantwortlich machen. Doch für die Eltern ist es in jedem Fall entsetzlich zu wissen, daß ihre Kinder nicht einmal nach einem Verkehrsunfall durch eine lebensnotwendige Operation gerettet werden könnten, weil Medikamente und Betäubungsmittel fehlen.

Auch im Kinderkrankenhaus „Dr.Olga Deolier“, unweit des Zentrums der serbischen Hauptstadt, fehlt es inzwischen selbst an den einfachsten Dingen, um für hygienische Verhältnisse zu sorgen. Im Gebäude Mije-Kovačević- Straße 13 gibt es kein Waschpulver (auf dem Schwarzmarkt kosten drei Kilo 30 DM), keine Baumwollwindeln (zehn Stück kosten 20 DM) und kein Milchpulver, obwohl nur die Hälfte der Mütter aufgrund der schlechten Ernährung ihre Babies stillen können.

In einer Station des Kinderkrankenhauses leben schon seit einem Jahr Flüchtlinge aus Bosnien, vor allem aus Sarajevo. 20 Mütter und ihre 60 Kinder mit chronischen Krankheiten wie Asthma, Hormon- und Herzerkrankungen, die auch in Bosnien schon ständiger Pflege bedurften, wohnen mit bis zu 15 Menschen in den Krankenzimmern. „Unicef hatte uns vertraglich zugesichert, die Versorgung der Flüchtlinge mit Medikamenten zu sichern, aber sie können den Vertrag nicht einhalten“, erklärt Dr. Nebojša Jonvanović. „Die letzte Lieferung ist viermal an der ungarischen Grenze zurückgeschickt worden. Sie finden eben immer einen Grund.“

Im Sava-Center gibt es keine Energieprobleme

Ljiljana Čvekić aus dem Unicef- Pressebüro in Belgrad, die uns in dieses Krankenhaus geführt hat, bestätigt die Aussagen des Arztes. Selbst das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat große Probleme, Medikamente ins Land zu bringen. „Jetzt haben wir auch noch Angst vor dem Winter. Wir brauchen 100 Tonnen Kohle zum Heizen, aber das Gesundheitsministerium hat kein Geld. Es wird schrecklich werden“, sagt Dr. Jonvanović verzweifelt.

Im „Sava-Centar“, einem futuristischen Bau aus Stahl und grünem Glas im Stadtteil „Novi Beograd“ (Neu-Belgrad), gibt es keine Energieprobleme. Dort muß man die Kälte des kommenden Winters nicht fürchten, im Gegenteil, die Betreiber können sich offenbar sogar leisten, eine Klimaanlage gegen die sommerliche Hitze in ihren die Ladenpassagen zu betreiben. Dort locken in zahlreichen Schaufenstern schwedische Leinen- und Seidendrucke, französische Parfüms, italienische Designer-Lampen, amerikanische Levi's-Jeans und englische Turnschuhe. Von den UN-Einfuhrbeschränkungen gegen Serbien und Montenegro ist hier nichts zu spüren, in einer Apotheke stapeln sich Vitaminpillen. Im Sava-Zentrum kaufen die neuen Reichen, die am Embargo verdienen: Geldwäscher, Devisenhändler, Waffendealer und Spekulanten. Auch Kinder, die nicht im Krankenhaus liegen, sind Opfer dieser Kriegstreiber und Kriegsgewinnler. Im Keller des Instituts für Psychologie und Philosophie sitzt eine Gruppe von Psychologen unter Leitung von Frau Vesna Ognjenović. Fast ein Jahr haben sie ohne Bezahlung mit Flüchtlingskindern und ihren Eltern gearbeitet, bis das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) die Finanzierung ihrer Arbeit übernahm. Die freiwilligen Helfer besuchen Flüchtlingskinder, um mit ihnen zu malen und zu spielen. „Bei diesen Kindern aus Bosnien und Kroatien gibt es nach den Kriegserlebnissen ein ganzes Bündel von Ängsten. Manche hören sogar ganz auf zu spielen. Viele Kinder mußten erleben, wie ihnen seit Jahren bekannte und vertraute Nachbarn zu Monstern wurden. Jetzt ist es schwer für sie, ihre Gefühlen nicht zu verdrängen, sondern mit ihnen umzugehen. Wir geben ihnen die Möglichkeit, ihre Gefühle durchs Malen und Theaterspielen auszudrücken“, erklärt Frau Ognjenović. Die Flüchtlinge aus Bosnien wohnen in der ehemaligen Pionierstadt am Stadtrand Belgrads. Die Psychologen arbeiten hier seit einigen Monaten mit einer Gruppe von 25 Kindern. Auf einer Stein- Terrasse führen die sieben- bis zwölfjährigen Kinder heute – verkleidet und geschminkt – vor den Eltern ein Theaterstück auf, das sie sich ausgedacht haben. Es geht um einen Strauß Rosen, den ein Mädchen in der Hand hat. Sie erklärt den Eltern, daß eine der Rosen im Strauß vergiftet ist. Die aber glauben ihr nicht, greifen nach der Rose und bekommen blutige Hände. Dann faßt das Mädchen dieselbe Rose an, aber ihre Hand wird nicht blutig. „Seht“, rufen die Kinder, die die Eltern spielen, „das Kind bekommt keine blutigen Hände von der giftigen Rose.“

Auch bei der Belgrader Unicef wird an psychosozialen Programmen für Kinder mit

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schrecklichen Kriegserlebnissen gearbeitet. Die Leiterin des Programmes, Frau Nila Kapor, erklärt, daß ein Drittel aller Flüchtlingskinder und 6 Prozent der serbischen Kinder durch direkte oder indirekte Kriegserlebnisse Angstzustände bekamen, die sich leicht zu Psychosen entwickeln können. Seit Februar werden 100 Psychologen und 300 Lehrer in dreimonatigen Kursen ausgebildet, um andere Lehrer und Eltern im Umgang mit den Kriegskindern zu schulen. „Wir wollen dadurch 12.000 Kinder erreichen, die sich nicht mehr konzentrieren können, die immer Angst haben. Immer wieder sehen sie die Bilder aus dem Krieg, erleben diese furchtbaren Erlebnisse mit der gleichen Intensität von neuem. Man kann diese Kinder in ein normales Leben zurückholen, aber es ist eine jahrelange Arbeit.“

Für das Unicef-Erziehungsprogramm in Serbien ist Braniclav Milčlinović verantwortlich. Schulbücher würden jeden Tag teurer und seien für die meisten Eltern nicht mehr finanzierbar, erklärt er. Zusätzlich sind aufgrund der vielen Flüchtlingskinder in Belgrad und in den Grenzgebieten zu Bosnien die Zahl der Schüler in den Klassen von durchschnittlich 30 auf 45 gestiegen. Oft müssen daher zwei Kinder auf einem Stuhl sitzen. Da die Unicef nicht genug Geld hat, um zusätzliche Lehrer, Schulräume und Stühle zu finanzieren, werden im Rahmen des Erziehungsprogramms Seminare durchgeführt. Das Thema: Wie unterrichte ich in zu großen Schulklassen? „Und wenn die Kinder nicht mehr genug zum Essen haben, dann entwickeln sie ein Programm, wie Lehrer hungrige Kinder unterrichten“, sinniert mein Dolmetscher, Herr Dšordši.

Dr. Jadran Magić arbeitet mit Unicef zusammen. Er ist Direktor der „Kinderherz-Stiftung“. In Serbien werden jährlich 700 bis 800 Kinder mit Herzfehlern geboren, die Hälfte muß bis zum dritten Lebensjahr operiert werden. Da es nicht genug Medikamente und Operationsmaterial gibt, starben in den letzten sechs Monaten 42 Kinder. „Jetzt haben wir aus Spenden Material für 30 Operationen bekommen, aber mehr als 300 Kinder stehen auf der Warteliste.“ 2.000 DM pro Kind würden ausreichen, um ihr Leben zu retten.

„Die Auswirkungen des Embargos sind katastrophal“, sagt der serbische Oppositionsführer Vuk Drašković, der vor zwei Monaten nach schweren Mißhandlungen durch die Polizei aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er sitzt in seinem Wohnzimmer unter einem Porträt des serbischen Schutzpatrons Sava, das ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. „Für mich mußten die Medikamente aus Wien und Budapest beschafft werden. Ich war Zeuge, als Kinder starben, weil Medikamente fehlten. Kranke Kinder dürfen nicht das Opfer der Politik sein.“

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